5. September 2015, 19:03 Uhr
,,Wo willst du hin?", fragte meine Mutter mich, als ich bereits fertig angezogen die Treppe herunter kam.
,,Zu Claire", erwiderte ich.
,,Claire?", fragte meine Mutter fast schon zu überrascht. Sie wusste, dass zwischen Claire und mir Streit war. Das musste keiner von uns ihr sagen, denn es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte, wenn ich nicht jeden Tag bei ihr oder sie bei uns war.
,,Ja", erwiderte ich erneut. ,,Ich habe jetzt keine Zeit zu diskutieren, ich muss mich beeilen"
,,Soll ich dich fahren?", wollte sie wissen.
Ich drehte mich zu ihr um. ,,Das wäre hilfreich"
____
Vor Claires Haus angekommen, stieg ich aus dem Wagen.
,,Soll ich auf dich warten, Mäuschen?", fragte meine Mutter mich noch schnell. Ich überlegte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf.
Mom nickte und ich schloss die Tür. Sie fuhr davon und ich steuerte mit einem mulmigen Gefühl im Magen auf die Haustür zu, vor der ich dann stehen blieb und klingelte.
Es dauerte nicht lange, bis mir jemand die Tür öffnete. Brandon. Ich senkte den Blick.
,,Hey Hannah", sagte Brandon und räusperte sich. Es war fast wie früher, wären da nicht die Erinnerungen an jene Nacht.
,,Ich wollte -"
,,- zu Claire", beendete er meinen Satz. ,,Natürlich. Sie ist oben in ihrem Zimmer" Er machte einen Schritt zur Seite, um mir Platz zum Reinkommen zu machen. Gott, ich konnte seine Nähe nicht ertragen. Es fiel mir schwer, nicht hier und jetzt einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.
Um Brandon schnell aus dem Weg zu gehen, ging ich die Treppen hinauf. Vor Claires Zimmertür blieb ich stehen und klopfte. Keine Reaktion. Brandon kam hinter mir die Treppe hoch. Ich wartete nicht lange und öffnete ihre Tür einfach ohne eine Antwort abzuwarten, um seinen Blicken nicht länger ausgesetzt zu sein.
Claire war nicht da.
Mit leicht geöffneten Lippen verharrte ich in meiner Position, als ich Brandon hinter mir wahrnahm.
,,Sie ist gar nicht da", stellte ich fest. ,,Aber sie hat mir geschrieben.."
,,Ich weiß, dass sie nicht da ist, Hannah", erwiderte Brandon und ich spürte seinen warmen, feuchten Atem in meinem Nacken. ,,Es tut mir so leid, aber ich musste einen Weg finden, dich zu sehen"
Wie versteinert blieb ich stehen. Mein Kopf sagte mir, dass ich mich von hier weg bewegen musste, doch ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Füße. Sie waren wie verschmolzen mit dem Boden.
,,Hör auf", flüsterte ich mit schwacher Stimme und verkrampfte meinen ganzen Körper, als seine Finger mich an den Oberarmen berührten. ,,Bitte"
Mir wurde heiß und kalt zugleich und mein Magen drehte sich um. ,,Ich muss dir nur etwas sagen und ich möchte, dass du mich anhörst und es verstehst.."
Er drehte mich zu sich um, sodass ich gezwungen war, ihn anzusehen, während er mit mir sprach. Seine blauen Augen musterten mein Gesicht. Die Finger meiner rechten Hand umschlossen mit aller Kraft die Finger meiner linken Hand.
,,Anfangs wusste ich gar nicht, was in jener Nacht passiert ist. Ich hatte echt keine Erinnerungen", begann er und machte einen Schritt auf mich zu, jedoch machte ich zugleich einen großen Schritt zurück, um den noch immer viel zu kleinen Abstand zwischen uns zu wahren. Noch dichter als dass mussten wir uns nicht sein. ,,Erst dachte ich, wir hätten einfach miteinander geschlafen, doch dann wurden die Bilder deutlicher. Hannah, ich habe nie vorhehabt, dir wehzutun.. bitte" Brandons Augen füllten sich mit Tränen, welche ihm nun über die Wangen liefen. Rasch wischte er sie mit dem Ärmel seines Pullovers fort. ,,Ich habe so viel Alkohol getrunken, dass ich keine Hemmungen mehr hatte. Ich habe deine Reaktion falsch interpretiert"
Er benutzte tatsächlich den Alkohol als Ausrede.
Dass er total betrunken war, wusste ich selbst, doch er konnte mir doch nicht allen ernstes versuchen weis zu machen, dass allein der Alkohol daran Schuld war, dass er mit mir geschlafen hatte und deshalb nicht deuten konnte, dass es nicht einvernehmlich war.
,,Hannah" In der Stimme des Jungen, der mich in jener Nacht vergewaltigt hatte, lag so viel Schmerz. ,,Ich hasse mich für das, was ich getan habe. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich kann mir das niemals verzeihen, was ich getan habe. Aber du musst mir glauben, ich habe das so nicht gewollt"
Tränen liefen mir über die Wangen. Tränen der Traurigkeit, Tränen der Verachtung, des Hasses. Aber auch Tränen des Mitleids. Doch verzeihen konnte auch ich ihm nicht. Niemals.
,,Du hast alles kaputt gemacht", flüsterte ich.
,,Bitte verzeih mir", flehte er mich an und kniff die Augen zu, raufte sich das braune Haar.
,,Ich kann nicht" Ich schüttelte den Kopf. ,,Ich möchte jetzt einfach nur nach Hause, lass mich gehen und lass mich in Zukunft in Ruhe."
Brandon folgte mir nicht weiter und ich verließ weinend das Haus, in welchem ich in meiner Kindheit neben meinem eigenen Zuhause die meiste Zeit verbracht habe.
All die guten und schönen Erinnerungen wurden nun überschattet von diesem einen Geschehnis. Brandon und ich kannten uns so lange und so sehr ich ihn auch für das, was er getan hatte, hasste, tief in meinem Inneren wusste ich, dass er ein großer Teil meines Lebens war. Er war nicht nur der Bruder meiner besten Freundin. Auch er und ich haben uns immer gut verstanden, viel zusammen gelacht, Claires Geburtstage organisiert und uns über ihre Geschenke ausgetauscht. Wir verbrachten Silvester zusammen, ich kam auch an seinen Geburtstagen.. wir haben uns nie als Freunde bezeichnet, doch irgendwie waren wir das trotzdem.. vielleicht sogar viel mehr als das. Er war wie ein Bruder für mich. Wie der Bruder, den ich mir selbst immer gewünscht habe. Zumindest bis zu jener Nacht.
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Eighteen
Teen FictionAbgeschlossen ✔️ Hannahs 18. Geburtstag beginnt mit einer großen Tragödie, als sie auf ihrer eigenen Party Opfer sexuellen Missbrauchs wird. Danach ist für sie nichts mehr, wie es einmal gewesen ist. Plötzlich entstehende Gerüchte sorgen dafür, das...