11 - Nussbraun

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▷ Harry Styles - Two Ghosts ◁


Den Sonntag verbrachte ich die meiste Zeit im Bett. Das Frühstück ließ ich ausfallen. Ich ging lediglich zum Mittagessen und setzte mich alleine an einen Tisch. Ich musste alleine sein. All diese Menschen um mich herum erstickten mich. Die restliche Zeit versank ich in meinem Buch und zwischen den Tönen der Musik die ich hörte. Der Regen prasselte gegen mein Fenster und hüllte mich in Sicherheit. Die frische Regenluft beflügelte mich und ich genoss den freien Tag im Bett. Wenn man sich nicht in der Lage fühlt, sich der Außenwelt zu stellen, ist das Bett der absolut beste Ort, um sich zu verstecken und der Welt vor dem Fenster zu entfliehen.


Der Wecker klingelt um kurz nach sechs. Um Sieben kommt der VW-Bus mit dem wir auf den Reiterhof fahren. Leonie dreht sich grummelnd um und dreht mir den Rücken zu. Sie ist gestern erst spät wieder in die Klinik zurückgekommen und vermutlich noch richtig müde. So leise wie möglich versuche ich, mich fertig zu machen und gehe erstmal ins Badezimmer. Die Lia, die mir aus dem Spiegel entgegenblickt, blinzelt müde. Meine Haare stehen mir wirr zu Berge und das erste, das ich tue, ist, sie mir zu kämmen und zu einem Zopf zu flechten. Meine Augen sind so schwer, dass sie mir immer wieder zufallen. Also putze ich meine Zähne mit geschlossenen Augen. Obwohl ich so müde bin, bin ich unglaublich aufgeregt und hibbelig. Heute sehe ich das erste Mal die Pferde. Ich bin sehr gespannt, welches Pferd mir zugeteilt wird und hoffe, dass ich es mit niemandem teilen muss. Auf Zehenspitzen schleiche ich wieder in unser Zimmer und suche meine Klamotten zusammen. Leonie grummelt und schlägt die Decke über den Kopf. Der Himmel ist bereits in ein sattes Rot getaucht und kündigt die Morgensonne an. Kurz werfe ich Leonie einen Blick zu, werfe mir meine Tasche über die Schultern und verlasse das Zimmer.


Jetzt stehe ich vor der Klinik und warte auf den Transporter der uns zum Reiterhof bringt. Ich nutze die Zeit und zünde mir eine Zigarette an. Das Klicken des Feuerzeugs durchbricht die Stille, die mich umgibt. Nur das Zwitschern der Vögel ist zu hören.

"Guten Morgen", murrt eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und erkenne Celine, die selbst so früh am Morgen aussieht wie aus dem Ei gepellt. Kurz sehe ich an mir runter. Die ausgelatschten schwarzen Sneaker haben definitiv schon bessere Tage gesehen. Wie ich auch.

"Guten Morgen, Celine", entgegne ich und versuche mich an einem Lächeln. Sie erwidert es kurz, zieht die Augenbrauen hoch, mustert mich und sieht anschließend weg. Augenblicklich fühle ich mich unwohl neben ihr.

Ich tue so, als würde ich die Zigarette entsorgen wollen und gehe zum Raucherpavillon, der auch von dieser Seite zu erreichen ist. Sie folgt mir nicht, sondern dreht mir den Rücken zu und ich atme erleichtert auf. Kurz darauf öffnet sich die Türe des Haupteingangs und eine kleine Gruppe anderer Patienten verlässt das Haus. Es sind einige aus meiner Gruppe, aber der größte Teil gehört zu den anderen. Die Tür, die vom Flur der Gruppenräume weggeht, öffnet sich und ich drehe mich gespannt um. Doch mir rutscht das Herz in die Hose. Es ist Noah. Allerdings wirkt Noah so, als wäre diese Uhrzeit auch nichts für ihn. Seine noch feuchten Haare stehen ihm wirr zu Berge und glänzen leicht in der Morgensonne. Sein Piercing ist vollkommen verdreht, sodass man die Enden der jeweiligen Stäbe sehen kann. Er hat Augenringe und seine Augen sind geschwollen, als hätte er nicht geschlafen - oder als wäre er direkt aus dem Tiefschlaf aufgescheucht worden. Er zieht die Nase hoch und klopft seine Taschen ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit runzelt er die Stirn und seufzt. Es ist das erste Mal, dass er mich ansieht und sein Blick nicht voller Hass ist. Sein markantes Kinn mahlt und seine Kiefermuskeln zucken. Aber sein Blick ist - zum ersten Mal - völlig neutral. Er beißt sich auf die Unterlippe und holt Luft. Doch ich unterbreche ihn und möchte verhindern, dass er in die Verlegenheit kommt, mich nach einer Zigarette zu bitten.

NOAH | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt