▷ Sam Smith - Lay Me Down ◁
Meine Lider sind schwer, als ich sie öffnen will. Es fühlt sich so an, als wäre eine ganze Wagenladung Steine auf ihnen. Jede Bewegung schmerzt, als wäre ich verprügelt worden. Und irgendwie bin ich das auch. Meine Hände schmerzen unter dem Verlust seiner Haut unter ihnen. Mein Herz schmerzt unter dem Verlust seines Herzens, das im gleichen Takt schlug - das die Melodie sang, die nur meines hören konnte. Ich seufze und habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird; ob Atmen jemals wieder ein Automatismus ist und funktioniert, ohne, dass ich meinen Körper daran erinnern muss.
Der Tag ist so unendlich dunkel. Mir fehlt mein Licht. Er fehlt mir. Dieses Loch, das mir in die Brust gerissen ist so groß, dass es vermutlich nie wieder richtig heilen wird. Ich habe seit Tagen nicht mehr wirklich etwas gegessen. Oma versorgt mich mit Suppen, weil ich die noch am ehesten runterbringen kann. Sie und Leonie haben meine Seite nicht mehr verlassen, seit ich an dem Tag das Haus betreten habe. Ich bin dankbar für ihre Hilfe - denn ich wüsste nicht, was ich tun würde, wäre ich alleine und auf mich alleine gestellt. Weihnachten flog an mir vorbei, mir war nicht zu feiern zumute - niemandem war zu feiern zumute. Ich hätte so gerne gekotzt, als ich mit den ganzen kitschigen Weihnachtsfilmen und Weihnachtsmusik konfrontiert wurde. Die Weihnachtszeit wird nie wieder etwas Gutes für mich bedeuten.
Sogar meine Mutter hat mich besucht und ich bildete mir eine Spur von Besorgnis in ihrem Gesicht ein. Vielleicht war sie echt, die Sorge - vielleicht auch nicht. Papa hat mich festgehalten und ich habe in sein Hemd geweint, das nachher ekelhafte nasse Spuren vorwies. Aber es schien ihn nicht gestört zu haben.
Inzwischen haben sie festgestellt, dass es ein Terrorangriff war. Noch immer kann ich nicht glauben, dass uns dieser Terror auch in Deutschland erreicht hat. In Berlin. In meiner Heimat. Dass ich dabei war und haarscharf dem Tod entkommen bin, realisiere ich immer noch nicht. Zu groß und intensiv ist der Schmerz über meinen Verlust.
Ich stelle mich unter die Dusche und lasse das warme Wasser auf mich niederprasseln. Ich verwende Noahs Duschgel - und ich habe Leonie losgeschickt, um mir eine Jahresration davon zu besorgen. Nun habe ich mehr als 20 Flaschen davon in meinem Badezimmer stehen. Es sind die kleinen Dinge die bleiben. Als ich fertig bin und das Badezimmer verlasse, steht Leonie mit dem Rücken zu mir am Fenster. Sie hört meine Schritte und dreht sich um. Ihr gelber Pulli ist zu fröhlich für die Dunkelheit in mir. Die Sonne wird von ihren feuerroten Haaren gespiegelt und ich bin kurz abgelenkt, ob des tanzenden Musters.
"Smilla ist gefahren um die Beerdigung vorzubereiten, beziehungsweise die letzten Vorbereitungen für übermorgen zu klären." Leonie tritt an mich heran streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Sie hängen nass und wirr von meinem Kopf.
Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nicht beistehen kann. Meine beste Freundin muss mir meine Gefühle an meinem Gesicht abgelesen haben.
"Mach dir keine Sorgen. Sie hat einen Freund der ihr hilft. Sie ist nicht alleine."
Stumm nicke ich und fummle den brüchigen Nagellack von meinen Nägeln.
"Ich habe Angst, Leo", flüstere ich.
"Ich weiß, Lia. Ich weiß." Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. Ihre Umarmung rückt meine Welt nicht wieder gerade, aber sie macht sie ein Stückchen heller.
Nico holt Leonie, Oma und mich ab. Er hat sich bereit erklärt, uns nach St.-Peter-Ording zu fahren. Auch Aaron, Betty und Kai haben sich für die Beerdigung angemeldet. Sie fahren allerdings mit dem Zug und kommen heute Abend an. Smilla hat ein paar Zimmer in einer kleinen Pension gebucht. Sie hat Oma und mir angeboten, bei ihr zu schlafen. Aber ich bin noch nicht bereit, das Zimmer zu betreten, in dem ich mit Noah war. Ich kann es noch nicht. Manche mögen mich für schwach halten oder weinerlich. Doch die Kraft fehlt mir. Sie fehlt mir.

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NOAH | ✓
Ficção Geral»Manche Menschen sind ein Geschenk, andere eine Strafe.« »Dann bist du eindeutig das ätzende Fegefeuer, Kugelfisch.« »Und du Pest und Cholera, Noah!« »Halt die Schnauze!« Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch gibt es für Lias Eltern nu...