▷ MISSIO - Can I Exist ◁
Leiser und sanfter Regen fällt auf uns nieder. Deswegen stellen wir uns unter das Dach einer Bude. Der Regen tropft links und rechts am Holz der Bude entlang. Das Papier knistert, als ich meine Schokofrüchte weiter auspacke und genüsslich hineinbeiße. Die Schokolade knackt und umhüllt süßlich die leicht saure Erdbeere. Ich seufze leise und erhasche dabei einen Blick auf Noah, der mich mit seinen funkelnden Augen ansieht, aber die Augenbrauen zusammengezogen hat und kurz zu meinem Essen blickt.
"Mh?" Mehr bekomme ich nicht raus, da mein Mund voller leckerer Schokolade und Erbeere ist. Mir wird bewusst, dass ich glücklich bin. In Noahs Gegenwart bin ich ich selbst. Ich fühle mich sicher und geborgen. Neugierig starre ich ihn an und warte auf eine Antwort auf meine Frage.
"Hast du denn nicht schon genug davon gegessen?" Er runzelt jetzt die Stirn und grinst schief. Ein Grübchen stiehlt sich in sein Gesicht. Aber die Wärme in seinen Augen erreicht mich nicht. Schlagartig ist mir kalt, als hätte er einen ganzen Eimer mit eiskaltem Regenwasser über mir ausgekippt.
Vermutlich meint er das gar nicht böse, aber ich bekomme es in den komplett falschen Hals. Das scheint er auch zu merken und mein Gesichtsausdruck muss Bände sprechen, denn seine Gesichtszüge entgleisen ihm völlig.
"Lia, nein. So ... Lia, warte", stammelt er und hebt langsam seinen Arm, wie als wollte er mich festhalten.
Gerade als er auf mich zugehen will, werden wir von einem Mann unterbrochen, der seinen Namen ruft. Noah stockt, sieht in die Richtung aus der sein Name kommt und ich nutze die Gelegenheit und drehe mich um. Ich fliehe, ich renne, so schnell ich kann. Das Atmen läuft mir schwer und ich kann mich kaum auf das Laufen konzentrieren, weil ich versuche, die Erdbeeren wieder einzupacken und in meine Tasche zu stopfen. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht - und so werfe ich sie in den Müll. Mein Herz blutet - nicht nur wegen Noahs Aussage, sondern, weil ich es einfach nicht mag, wenn man Essen wegwirft.
Was man dir ja auch an deiner Figur ansieht.
Tränen laufen über meine Wangen. Ich weiß, vermutlich reagiere ich gerade total über. Aber ich habe all diese Kommentare bereits von meiner Mutter gehört, daran erinnert mich Noahs Aussage. Sie triggert mich. Sie triggert mich so sehr, dass ich nichts mehr hören und sehen möchte. Ich möchte verschwinden. Mich klein machen. Mich unsichtbar machen. Nichts mehr fühlen. Selbsthass frisst mich auf, ätzt sich durch meinen Körper. Ich stehe wieder vor meiner Mutter, die mich anschreit und aus ihren kalten Augen von oben herab ansieht. Es ist jetzt ihre Stimme die ich in meinem Kopf höre, die dort erklingt und mein Selbstbewusstsein, das ich mir in den letzten Monaten so hart erarbeitet habe, wieder klein macht.
"Lia, verdammt, jetzt warte doch mal." Ich höre Noahs Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass er mir aber nicht nachläuft, sondern erneut stehen bleibt und etwas in seiner Hosentasche sucht.
Es ist gut, dass er stehen bleibt. Ich hätte keine Chance - er hätte mich innerhalb weniger Sekunden eingeholt. Gegen seine langen Beine hätte ich mit meinen Stummelbeinchen keinerlei Chance. Dazu kommt, dass seine Kondition um einiges besser ist.
Die Straße vor mir hat plötzlich eine Stufe. Ich stolpere. Ein Auto quietscht und ich starre geblendet in zwei helle Scheinwerfer. Die Fahrertür öffnet sich und ein junger Mann springt heraus.
"Kannst du nicht aufpassen, verdammt?! Ich hätte dich beinahe überfahren. Mensch, Mädel, geh von der Straße runter!"
Erstaunt sehe ich auf und tatsächlich: Ich stehe mitten auf der Hauptstraße. Die Menschen um uns beobachten uns. Ich stammle eine leise Entschuldigung und winke kurz, ehe ich schnell weiter über die mäßig befahrene Straße laufe.

DU LIEST GERADE
NOAH | ✓
General Fiction»Manche Menschen sind ein Geschenk, andere eine Strafe.« »Dann bist du eindeutig das ätzende Fegefeuer, Kugelfisch.« »Und du Pest und Cholera, Noah!« »Halt die Schnauze!« Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch gibt es für Lias Eltern nu...