43 - Blutorange

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▷ Aquilo - Calling Me ◁


Der Herbst ist inzwischen ins Land gezogen, das merke ich sehr, als ich mit Leonie vor dem Haus meiner Eltern stehe und die blutorangenen Blätter beobachte, die durch den Garten wehen. Heute werden wir alles in die Kisten packen, die Möbel auseinanderbauen und alles zu meiner Oma bringen. Noch immer kann ich es nicht fassen. Ich stopfe meine Hände in meinen grünen Jackentaschen und suche nach dem Schlüssel. Er klimpert und fühlt sich kühl auf meiner Haut an. Es ist befremdlich, wieder vor diesem Haus zu stehen. Das Haus, welches so lange ein unsichtbares Gefängnis für mich war. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Es ist windig und frisch, die Blätter tanzen durch den Garten und ich ziehe meinen Schal hoch. Trotz meiner Körperfülle bin ich eine Frostbeule. Ich sehne mich nach warmen Händen, die mich wärmen - und sturmblauen Augen. Inzwischen sind vier Wochen vergangen und ich habe nichts von Noah gehört. Ich seufze und werfe Leonie einen Blick zu. Sie tippt auf ihrem Handy herum und grinst glücklich.

"Schreibst du Nico?", erkundige ich mich.

Sie sieht auf und nickt. "Ja, er kommt heute Nachmittag und hilft mit seinem Bruder noch mit. Ich bin so aufgeregt, denn dann lernst du ihn endlich mal kennen. Ich hoffe, du magst ihn."

Ich lege die Stirn in Falten und gucke gespielt streng. "Das hoffe ich auch."

Leonie grinst. "Du bist so doof."

"Ich weiß. Komm, betreten wir die Höhle des Löwens", sage ich seufzend und betrete den kleinen Weg zu unserem Haus.


Die Tür schwingt auf und knallt leicht gegen den Türstopper an der Wand dahinter. Es riecht noch immer nach dem Parfum meiner Mutter. Ich möchte nicht wissen, wie viel sie davon aufgetragen hat, bevor meine Eltern in den Urlaub geflogen sind. Schon lustig, dass sie genau diesen Zeitpunt für ihren Urlaub gewählt haben - haben sie doch gewusst, wann ich entlassen werde. Aber es ist besser so. Denn so muss ich mir keine Vorwürfe von meiner Mutter anhören oder die stillen Vorwürfe meines Vaters in seinen Augen erdulden.

"Wow", raunt Leonie und sieht sich in dem Flur um. Er ist groß und durch die zwei großen Fenster neben der Haustür in helles Tageslicht getaucht. Die Bilder an der Wand sind Originale irgendwelcher modernen Künstler die ich nicht kenne. Es gibt kein einziges Foto von uns als Familie. Ich schließe die Haustüre hinter uns und lasse mein altes Zuhause eine Sekunde auf mich wirken.

"Du kannst die Schuhe anlassen", weise ich an und betrete die Treppe, die mit einem roten Läufer bedeckt ist um die Schritte zu dämpfen.

Langsam fahre ich mit meiner Hand über das goldene Geländer, als wir in den ersten Stock gehen. Ich besitze nicht viele Möbel. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, einen Schreibtisch, ein Bücherregal und einen Kleiderschrank. Alles von IKEA und leicht auseinanderzubauen. Meine Eltern wollten mir irgendwelche Markenmöbel kaufen, aber ich bestand auf die Möbel des schwedischen Möbelhauses. Leonie begutachtet mein Bücherregal.

"Mh, irgendwie dachte ich, du hättest mehr Bücher daheim." Sie zieht eine Schnute.

"Hab ich auch. Hier", sage ich und hebe die Tagesdecke meines Bettes hoch. Darunter habe ich alle anderen Bücher verstaut, die nicht in mein kleines Bücherregal gepasst haben.

"Holy moly. Okay, du hast wirklich viele Bücher." Sie lacht und streicht über die Bücher.

Oma und ich haben heute, ganz früh am Morgen, bereits etliche leere Kartons hergebracht, die Leonie und ich nun mit meinen ganzen Sachen befüllen. Wir packen die Bücher in die verschiedenen Kartons, damit sich das Gewicht wenigstens ein bisschen verteilt. Die Kisten werden definitiv schwer genug. Ich schlucke, denn mir wird bewusst, dass ich noch so einiges für das Gästehaus kaufen muss. Meine Eltern und Großeltern haben mir ein Sparkonto eingerichtet, auf das ich bisher noch nicht wirklich zugegriffen habe - aber das werde ich nun plündern müssen. Und doch freue ich mich, denn es wird für meine eigene Wohnung sein.

NOAH | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt