Kapitel 24

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Im Wohnzimmer herrschte eine fast gespenstische Stille. Patricia schluchzte leise und hin und wieder war das Knarren eines Stuhls zu hören, wenn sich jemand bewegte. Ansonsten war kein Laut zu hören. Denis half Claire aufzustehen und rückte ihr sogar einen Stuhl zurecht. Ihr Kopf dröhnte ein wenig und ihr war ein bisschen schwindelig, aber sonst ging es ihr gut. Das war vermutlich das Adrenalin, das sich jetzt langsam abbaute. Zum Glück hatte sie sich mehr erschrocken als verletzt – sie blutete nicht einmal. Nur das leichte Pochen an ihrem Hinterkopf deutete an, dass sie wohl eine Beule davontragen würde – aber damit konnte sie leben. Es hätte weit schlimmer kommen können.

Claire war noch immer entsetzt von Paddys Verhalten, das so ganz anders gewesen war, als das was sie kannte. Natürlich war er mal wütend gewesen und er hatte sie angeschrien. Schon das hatte ihr Angst gemacht. Aber das eben... Es war, als hätte sie plötzlich einen ganz anderen Paddy gesehen – einen dunklen, gefährlichen und zu allem bereiten Mann, der keine Grenzen mehr kannte. War das seine wahre Identität? Claire fragte sich plötzlich, ob sie Paddy überhaupt wirklich gekannt hatte – oder nur das Bild, das er nach außen zeigte. War seine Fassade jetzt tatsächlich gebröckelt? Oder war es nur der Moment gewesen – die Dämonen, die die Kontrolle über ihn gewonnen hatten?


Claire ließ ihren Blick kurz über Paddys Familie wandern. Auch sie schienen ihren Bruder und Schwager so nicht zu kennen – das sagten ihre fassungslosen Gesichter deutlich. Denis hielt seine noch immer leise schluchzende Frau im Arm, die noch immer kreidebleich war und sich dezent in eine Serviette schnäuzte, weil kein Taschentuch zur Hand war. Auch Denis sah sehr nachdenklich und erschrocken aus. Selbst Joey war sehr still geworden und grübelte offenbar vor sich hin. Auch er schien nicht glauben zu können, was sich nur fünf Minuten zuvor ereignet hatte. Die Zeit schien wie durch Sirup zu laufen – Claire kam es viel länger vor, seitdem Paddy völlig außer sich das Haus verlassen hatte. Jimmy starrte wütend vor sich hin und tupfte sich das langsam versickernde Blut mit einer weiteren Serviette ab.

Es fühlte sich an, als würde die Zeit still stehen. Claire hatte keine Ahnung, was sie fühlen oder denken sollte. In ihrem Bauch flatterten keine Schmetterlinge mehr, sondern ein tonnenschwerer Stein lag inihrem Magen und ihr Herz schien aus tausend Wunden gleichzeitig zu bluten. Hatte sie sich wirklich so sehr in Paddy getäuscht und ihr Herz einem sehr gefährlichen Mann geöffnet? Ihr Inneres focht einen stummen Kampf über die Antwort aus. Ein Teil von ihr rief ihr eine überdeutliche Warnung zu, während ein anderer Teil sie zur Besonnenheit mahnte. Paddy war nicht er selbst gewesen und hatte nicht gewusst was er tat. In seinen Augen hatte deutliches Entsetzen gestanden, als er gesehen hatte, was er getan hatte. Aber es war in diesem Augenblick für ihn unmöglich gewesen, auch nur irgendwie rational zu handeln. Eine vollkommene Ausnahmesituation. Aber was, wenn er sich auch ein anderes Mal nicht unter Kontrolle hatte und er dann etwas Schlimmeres tat, als sie nur zu schubsen? In seinen Augen war nichts mehr von dem sanften Paddy gewesen, den Claire noch am Mittag erlebt hatte. Was wenn so etwas wieder passierte – und wieder und wieder? Claire wusste, dass so etwas schnell passierte, wenn man einmal diese Grenze übertreten hatte – aus eigener Erfahrung. Aber sie wollte Paddy auch vertrauen – daran glauben, dass er ihr niemals wirklich etwas antun würde. Es war nur so schwer.


Claire unterdrückte ein Seufzen und rieb sich die leicht pochenden Schläfen. Ihr Kopf schmerzte von den Fragen, die darin herumwirbelten und ihr war ein wenig schwindelig. Am liebsten hätte sie jetzt geweint – oder sich in Paddys Arme geflüchtet, um Trost zu finden. Aber vor Paddys Familie wollte sie ihre Gefühle ungern zeigen und Paddy war irgendwo draußen unterwegs – vermutlich vollkommen verwirrt, hilflos und in sich selbst gefangen. Unerreichbar für rationale Worte. Vielleicht hasste er sich gerade selbst am allermeisten. Wenigstens konnte er nicht selbst Auto fahren und sich selbst oder andere in Gefar bringen, denn der Schlüssel war sicher in Claires Tasche verwahrt. Er hätte sich niemals verziehen, wenn noch einmal ein Mensch durch ihn zu Schaden gekommen wäre – erst recht nicht nach seinem Erlebnis mit Vanessa, das ihn noch immer verfolgte und vielleicht zumindest teilweise für alles verantwortlich war. Aber trotzdem konnte auch so noch genug passieren. Im Augenblick war nichts ausgeschlossen – auch nicht, dass er sich selbst etwas antat.

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