Shawnmas - der Weihnachtskalender 2017

7. Dezember

7. Dezember 

- Castle On The Hill

Nervös tippte ich mit meinen Fingerspitzen auf der Tischplatte herum. Wann kam er denn endlich? Wann steckte Charlie seinen Schlüssel in die Tür und stiefelte durch den Flur hier in die Küche? Ungeduldig schaute ich ein weiteres Mal auf die Küchenuhr. Es war 12 AM,  ich wartete also schon seit vier Stunden. In dieser Zeit hatte ich schon sechs Tassen Kaffee getrunken, um einerseits nicht einzuschlafen und anderseits mich zu beschäftigen und langsam aber sicher meldete sich meine Blase zu Wort und drängte mich dazu, dass Badezimmer aufzusuchen. Mit einem letzten Blick auf die Wanduhr neben dem großen Küchenfenster, lief ich in Richtung Bad. Ich drehte den Wasserhahn auf, um mir die Hände zu waschen, als ich ein Husten hörte. Schnell wusch ich mir die Hände, bevor ich aus dem Bad stürmte.

Tatsächlich stand vor der Wohnungstür ein junger Mann. Seine Haare hatte er unter einer grünen Bommelmütze versteckt, doch trotzdem hingen an seiner Stirn einige braune Strähnen heraus. Als er auch mich entdeckte, konnte ich sein Gesicht sehen und seine linke Augenbraue, wo ein Stück fehlte. Charlie zog sich seinen Anorak aus und hing ihn an die Garderobe. Ich ließ ihn noch seine Schuhe loswerden und seine Mütze absetzen, bevor ich ihn freundschaftlich umarmte.„Schön dass du wieder da bist! Du hast ganz schön auf dich warten lassen!" Er lachte und klopfte mir auf den Rücken, bevor er seinen Rucksack nahm und ihn sich auf den Rücken schmiss. „Hast du mich vermisst, Buddy? Habe ich dir gefehlt?", fragte er belustigt und lief in die Küche. Ich kam ihm hinterher und sah zu, wie er den Reißverschluss aufzog. „Ohne dich ist es ziemlich still hier. Dein Schnarchen, Pfeifen oder deinen Gesang beim Duschen hat mir durchaus gefehlt.", meinte ich neckend, nahm ihm den Thermobecher ab und stellte ihn in die Spülmaschine. „Dann nehme ich dich das nächste Mal einfach mit." „Nein, lass mal. Das kann ich niemanden antun. Aber los jetzt! Zieh dich schnell um, ich werfe deine Wäsche in die Waschmaschine und dann müssen wir losmachen. Die anderen warten schon auf dich. Wir haben schon heute Nacht mit dir gerechnet!"

Mein bester Freund und WG- Mitbewohner lachte, machte sich jedoch auf den Weg in sein Zimmer, während ich mir seinen Rucksack schnappte und wieder ins Bad verschwand. Schnell warf ich alle hellen Kleidungsstücke in die Trommel und schüttete das Waschmittel in das vorgesehene Fach, bevor ich die Maschine starten ließ. Dann suchte ich in der Küche meinen Schlüssel, mein Handy und meinen Führerschein zusammen, bevor ich meine Jacke und meine Schuhe anzog. Einige Minuten später trat Charlie frisch gestylt zu  mir. „Können wir los?" „Wir können!", antwortete er mir euphorisch. Wie in alten Zeiten schon, betraten wir das Treppenhaus. Ich schloss die Tür ab, während er den Fahrstuhl kommen ließ. Ich war froh, dass sich manche Sachen nicht verändert hatten. Auch nach einem Jahr Abwesenheit meines Freundes schienen wir uns noch blind zu verstehen.

Wir nutzten den Fahrstuhl, um in die Tiefgarage zu gelangen. Dort suchten wir meinen Wagen auf, den ich schon von weiten aufschloss. Charlie und mein Blick trafen sich, dann starteten wir ein Wettrennen. Man konnte uns vielleicht als kindisch bezeichnen, doch das machte uns nichts aus. Das hatte uns noch nie etwas ausgemacht. Zwar war er der erste am Auto, doch ich war es, der sich auf den Fahrersitz schmiss und den Wagen startete. Zügig parkte ich aus und fuhr aus der Garage auf die Straße. „Na, dann auf geht's!", meinte ich glücklich, als ich nach einigen Minuten auf den Highway fuhr. Charlie spielte währenddessen am Radio herum, bis er etwas gefunden hatte, was ihm gefiel. Sofort drehte er den Lautstärkeregler bis zum Anschlag auf. Ich schmunzelte und konnte es mir nicht verkneifen mitzusingen – auch  er stieg mit ein. „I'm on my way, driving at ninety down those country lanes, singing to "Tiny Dancer" and I miss the way you make me feel, and it's real, we watched the sunset over the castle on the hill, over the castle on the hill, over the castle on the hill!"

Die letzten 365 Tage hatte ich ohne ihn verbracht und noch immer fand ich es unrealistisch, dass er heute wieder neben mir saß und wir zu den Liedern im Radio zusammen mit grollten, doch es war so und ich würde es nie wieder missen wollen. Ich wollte nicht wieder ein ganzes Jahr ohne ihn verbringen, ohne zu wissen, wie es ihm geht, ob er überhaupt noch lebte und wo er war. Denn letztes Jahr am siebten Dezember ließ er Los Angeles hinter sich und startete das Abendteuer seines Lebens. Er schwor mir damals, dass er genau ein Jahr später zurückkehren würde und das tat er tatsächlich. Heute kam er zurück – gesund und munter wie es schien. Und jetzt waren wir auf dem Weg zu unserer Party des Jahres. Wir, also seine Familie und alle seine Freunde – mich eingeschlossen -  feierten seine Rückkehr in einem Ort weit außerhalb von L.A., denn Charlie wollte einen letzten Tag ohne die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erleben, bevor er wieder auftauchte, denn für alle anderen außer seinen engsten Angehörigen, war er spurlos vom Erdboden verschluckt gewesen. Ganz unauffällig und allein hatte er eine Weltreise gemacht, nicht einmal wurde er entdeckt und genau das war sein Plan gewesen.

„Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day you gave it away.", begann Charlie zu singen, als Castle On The Hill geendet hatte. „This year, to save me from tears I'll give it to someone special!", sangen wir im Einklang weiter und schüttelten uns vor Lachen. „Shawn, würdest du bitte auf den Verkehr achten?", bat mein Freund mich und wenn ich eins nicht vermisst hatte, dann war es seine Vernunft. Wobei eigentlich hatte sie mir schon gefehlt, denn schließlich machte sie Charlie aus und ich würde sie nicht missen wollen, denn ohne sie wäre er nicht mein bester Freund und weil ich ihn noch eine Weile behalten wollte, konzentrierte ich mich weiter auf die Straße.