23. Dezember

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23. Dezember 

-The Other Side

Ich sah Shawn dabei zu, wie er hochkonzentriert unsere Gepäckstücke in unser Auto einräumte. Es war ein bisschen so, als würde er Tetris spielen. Immer wieder stellte er eine der Taschen auf einen Koffer, um sie dann wieder heraus zu nehmen und etwas anderes an den Platz zu stellen. Ich wollte mit ihm nicht tauschen. Wir wollten noch einmal unsere traute Zweisamkeit genießen und in den Urlaub fahren, bevor unser Baby das Licht der Welt erblickte. Ich war in der 13. Schwangerschaftswoche, das Baby war kerngesund und ich hatte keine Bedenken, dass sich das ändern könnte. Schließlich ging es mir gut und Shawn achtete stets darauf, was ich tat und ob ich das durfte. Schon jetzt konnte ich sagen, dass er ein wirklich toller Vater sein würde. Er begleitete mich zu jedem Arztbesuch, er las etliche Ratgeber für werdende Väter, er entlastete mich, wo es nur ging. Das Kinderzimmer war schon jetzt für den Bezug des Zwerges bereit, dafür hat Shawn gesorgt, deshalb hatte er ruhigen Gewissens der Idee in den Urlaub zu fahren, zu gestimmt. Wir hatten uns kurzerhand ein kleines Ferienhaus in der Landmitte Kanadas gebucht, um unseren Alltag für kurzer Zeit entfliehen zu können. 

„Schließt du schon mal die Tür ab? Ich werde das restliche Gepäck auf der Rückbank festschnallen", sagte Shawn und schloss den Kofferraum.
„Aber-", sagte ich, um ihm zu widersprechen.
„Ich pass auf, dass dem Vogelbauer nichts passieren kann", unterbrach mich Shawn und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich würde nie zulassen, dass Meliorn und Félicité etwas passiert", versicherte er mir. Ich nickte schließlich. Ich vertraute ihm, immerhin lagen ihm unsere zwei Wellensittiche genauso am Herzen wie mir.
Wie von mir verlangt schloss ich die Tür ab und zog den Schlüssel ab. Fröhlich schlendernd lief ich zum Auto zurück. Shawn schloss gerade die Tür hinter dem Fahrersitz. „Kann es los gehen?", fragte ich und schaute ihn voller Vorfreude an.
„Wenn ihr soweit seid, das Kleine nicht auf deiner Blase liegt und du nicht nochmal auf Toilette musst, dann können wir tatsächlich endlich los", meinte der werdende Vater.
„Dafür wäre es nun zu spät. Ich habe die Tür schon abgeschlossen, aber Zwerglinchen liegt diesmal nicht so, dass ich das Gefühl habe, auf Toilette rennen zu müssen."
„Na, dann: Lass uns los machen." Wir stiegen ein, Shawn auf der Fahrerseite, ich nahm auf dem Beifahrersitz platz, und fuhren von unserem Grundstück. Zufrieden lehnte ich mich zurück und schaltete die Sitzheizung an. Das machte ich immer. Während wir beide schweigend auf die Straße schauten, das Radio im Hintergrund dudelte, strich ich mir über den Bauch.
Wir hatten uns nicht sagen lassen, welches Geschlecht unser Baby hatte, denn dieses würde die Liebe nicht beeinflussen. Trotzdem hoffte ich insgeheim, dass das kleine Wesen in mir ein Mädchen war, auch wenn mir bewusst war, das Mädchen dazu neigte, mehr an ihrem Vater zu hängen. Doch ich wollte meiner kleinen Prinzessin alles das geben, was meine Mutter mir nicht geben konnte. Ich wollte mit ihr die schönsten Laternen basteln, die schönsten Partys schmeißen und die längsten Shoppingtouren machen. Der Gedanke daran, dass ich das alles nicht hatte schmerzte, doch zu wissen, dass mein Kind nie Chance hatte, seine Großmutter kennenzulernen noch viel mehr. Doch Shawns Mutter hatte mir schon am Anfang der Schwangerschaft versprochen, dass das Kleine nie etwas von der Seite der Großeltern fehlen wird und das glaubte ich ihr.
„Über was denkst du nach?", fragte mich Shawn und nahm seine rechte Hand wie so oft vom Lenkrad und legte sie auf mein Bein.
„Ob wir dort Bettwäsche brauchen oder nicht. Ich denke, ich habe vergessen unsere eigene einzupacken", sagte ich ihm. Ich liebte und vertraute Shawn, doch ich kannte seinen mitleidigen Blick, wenn ich ihm von meiner frühverstorbenen Mutter erzählte und den wollte ich mir ersparen. Heute war ein schöner Tag. Ich sollte mit diesem trüben Gedanken aufhören.
„Ich weiß, dass du lügst...", antwortete Shawn, doch er klang keineswegs böse oder enttäuscht. Er klang einfach entspannt. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, es aus mir rauszuquetschen. Ich konnte sturer als ein alter Esel sein, dass wusste er. Deshalb antwortete ich bloß, dass es mir bewusst war, dass er mich durchschaut hatte.
„Wie lange fahren wir eigentlich?", erkundigte ich mich bei ihm.
„Wir brauchen noch etwa fünf Minuten, bis wir auf dem Highway sind, von da an dann etwa fünf Stunden. Wir sollten aber wenigstens eine Pause machen, damit du dir die Füße vertreten kannst."
„Das ist lieb, aber ich melde mich schon, wenn ich nicht mehr sitzen kann", sagte ich und lächelte ihn an. Für einen Augenblick sah er in meine Richtung, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
Ich verstellte meinen Sitz etwas nach hinten, sodass ich aber noch nicht an den Käfig stieß, und schloss entspannt die Augen. Ich war müde, die letzte Nacht wurde mir der Schlaf von einem strampelten Baby geklaut und da sagte man mir, dass die Nächte nach der Geburt die schlimmsten waren. Das konnte ich mir nicht vorstellen, denn da konnte ich einfach sagen, dass es Shawns Kind ist und er sich drum kümmern soll, doch solange der Zwerg noch in meinem Körper war, durfte ich mich durch die Schwangerschaft kämpfen. Zwar war ich mir bewusst, dass es auch für Shawn nicht so einfach war, doch ich stellte mir seine derzeitige Situation und Nächte besser als meine vor. Denn meinem Instinkt nach, bekamen wir in fünf Monaten eine nachtaktive Fußballerin.

Shawnmas - der Weihnachtskalender 2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt