2. Dezember

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2. Dezember

- Nur ein Herzschlag entfernt

Als es an meiner Zimmertür klopfte, sah ich von meinen Hausaufgaben auf.
„Ja, komm herein!", rief ich und sah gleich danach Shawn, der seinen Kopf in mein Zimmer gesteckt hatte.
„Hey, Kleine. Was machst du? Darf ich reinkommen?", fragte er und trat, nach einem Nicken meinerseits, ein.
„Du darfst immer in mein Zimmer. Seit wann fragst du?", meinte ich belustigt und drehte mich auf meinen Schreibtischstuhl. Shawn setzte sich auf mein Bett.
„Ich war lange nicht mehr Zuhause. Vielleicht hat es sich geändert. Ich will dich nicht verärgern, nicht wenn ich nur so selten hier bin. Kann ich dir eigentlich helfen? Das sieht wie Mathe aus.", sagte er, nachdem er einen Blick auf meinen Hefter geworfen hatte. Mein Bett stand direkt an der schmalen Kante meines Tisches, sodass ich auf meinem Bett sitzen konnte und trotzdem auf dem Tisch schreiben konnte, doch das machte ich nur, wenn ich wirklich krank war. Sonst hatte ich einen Hang zur Ordentlichkeit und konnte es nicht ausstehen, wenn meine Handschrift unordentlicher als normal war.
„Wenn du es kannst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand das im Gedächtnis behält. Das braucht man doch nie wieder. Erstrecht nicht du."
„Schieb mal rüber.", forderte er mich auf. Ich kam dem nach und legte ihm meine Aufgaben und einen Kugelschreiber vor die Nase. Shawn griff sofort nach dem Stift und schrieb etwas auf.
Es war schon eine halbe Ewigkeit her, seitdem er mir bei den Hausaufgaben geholfen hatte. Damals hatte er das gerne gemacht, wenn ich eine Frage hatte, war er da, um es mir zu erklären, doch jetzt, in der Zeit in der Shawn kaum in Pickering war, war mein erster Ansprechpartner meine Mutter.
Shawn fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Kannst du mir mal bitte den Taschenrechner geben?"
Zügig schob ich ihn zu Shawn, der mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte klopfte.
„Hör auf, du malst so meinen Tisch an!", empörte ich mich und erntete ein Augenrollen von meinen Bruder.
„Du klingst schon wie Mum, Aaliyah."
„Ich bin auch ihre Tochter. Ich habe das geerbt. Aber weißt du, was mich wundert? Ich frage mich seit Jahren, woher du diesen schrecklichen Klamottengeschmack her hast. Kein Junge in deinem Alter zieht so schreckliche Hemden an. Selbst Mum und Dad wissen sich zu kleiden. Warum du nicht?", neckte ich ihn.
„Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass du so frech sein kannst, wenn ich doch gerade deine Hausaufgaben mache, weil du zu unintelligent bist. Ich würde mir das an deiner Stelle nicht wagen!"
„Aber ich bin an meiner Stelle und ich weiß, dass du deine indirekte Drohung, dass ich meine Aufgaben alleine machen muss, nicht wahrmachen würdest. Du bist nämlich mein Bruder. Du liebst mich und würdest mich so hart nie bestrafen."
„Da könntest du natürlich recht haben", sagte Shawn augenzwinkernd. Zusätzlich kniff er mir noch in meine Wange.
„Bleibst du heute eigentlich hier?", erkundigte ich mich. Ich hoffte so sehr, dass er bejahte, denn ich liebte diese Tage, die denen von früher ähnelten. Heute war Shawn kaum noch Zuhause und unser Haus war immerzu leer und leise; daher genoss ich die Tage, an denen er sich entschied hierzubleiben. Es fühlte sich immer so an, als hätte sich nichts verändert.
„Nein, leider nicht. Ich habe morgen Abend doch diesen Termin, in der Fernsehshow. Haben dir das Mum und Dad nicht berichtet? Ich muss diese Nacht noch nach New York fliegen. Andrew kommt nachher, dann essen wir noch mit und dann fahren wir gleich zum Flughafen. Da sollte nachts nicht so viel los sein."
Shawn bemerkte meinen enttäuschten Blick nicht. Ich wusste, dass er mich liebte, immerhin bin ich seine kleine Schwester und ich wusste auch, dass er erwachsen war und sein eigenes Leben zu führen hatte. Ich gönnte ihm auch den Ruhm und seinen Erfolg, doch es gefiel mir überhaupt nicht, dass ich ihn schon wieder gehen lassen musste. Zwar blieb er zum Abendessen, doch Andrew würde auch anwesend sein.
Ich mochte Andrew – er war sympathisch, lustig und hilfsbereit, doch erst durch ihn gelang Shawn der Durchbruch. Für mich war er der Verantwortliche dafür, dass Shawn so oft außer Reichweite war. Dabei brauchte ich ihn zurzeit so sehr. Es war auch nicht so, dass ich ihn einfach anrufen konnte, oftmals war das nicht möglich, weil er entweder einen Termin hatte oder am anderen Ende der Welt war.
Alle beneideten mich, dass ich einen berühmten Bruder hatte, doch niemand sah die Nachtteile. Er wurde plötzlich aus meinem Leben gerissen. Er war plötzlich nicht mehr immer da. Er lief von einen Tag zum anderen nicht mehr mit mir zusammen zur Bushaltestelle. Wir verbrachten die Abende, an denen unsere Eltern nicht Zuhause waren, nicht mehr zusammen mit Pizza und Harry Potter auf seinem Bett, sondern getrennt und verteilt irgendwo auf dieser Welt.
„Hey, Aaliyah, es tut mir leid, aber es geht nicht anders. Das weißt du doch", sagte er leise und stand auf. Ich dachte, er würde nun mein Zimmer verlassen, doch stattdessen stellte er sich hinter mich und legte mir seine Hände auf die Schultern. „Ich würde auch viel lieber länger bleiben, dich morgen früh sogar zur Schule fahren, wenn du das willst, doch das muss noch warten. Ich habe bald etwas Zeit. Vielleicht kannst du mit zu den AMAs und dann verbringen wir im Anschluss noch ein paar Tage in Los Angeles. Was hältst du davon? Wir können gleich beim Essen mit Mum und Dad sprechen."
„Shawn, das geht nicht. Ich muss danach in die Schule. Sie sind Sonntags!", motzte ich ihn an.
„Oh... Dann bietet sich bestimmt bald eine andere Gelegenheit", ruderte er zurück.
„Ja, sicher. Bestimmt.", sagte ich und wurde durch ein schrilles Klingeln unterbrochen. „Das wird Andrew sein. Lass uns hinunter gehen."
Mein Bruder nickte und lief in Richtung Zimmertür. Ich folgte ihm. Als wir auf dem oberen Treppenabsatz standen, konnten wir sehen, wie unsere Mum gerade die Tür öffnete und fröhlich den Manager meines Bruders begrüßte.
Wie immer, wenn er uns besuchte, trug er eine schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd. In der Hand hielt er eine Flasche Wein, die er meinem Vater gerade überreichte.
Noch immer standen Shawn und ich hier oben und beobachten die unten ablaufende Situation.
„Schön, dass du da bist. Karen und ich haben gerade das Essen auf den Tisch gestellt.", sagte mein Dad und schlug Andrew freundschaftlich auf den Rücken. Ich den letzten Jahren sind auch er und Andrew gute Freunde geworden. Was mich nicht wunderte, denn immerhin haben sie aufgrund Shawns Karriere viel Zeit miteinander verbracht.
„Ja, ich freue mich auch euch wiederzusehen. Lange ist das letzte Mal her.", meinte Andrew bedauerlich.
„Ja, das stimmt. Geht doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich hole noch die Kinder.", schlug meine Mutter vor und drehte sich um.
Shawn, der meine Zimmertür leise öffnete und wieder kräftig zuzog, rief ihr zu: „Nicht nötig, Mum! Wir kommen schon!" Shawn sah mich auffordernd an und lächelte mir zu. Es tat ihm leid, doch er konnte sich nicht helfen. Das war mir bewusst, doch trotzdem tat es weh zu wissen, dass er nun zu den anderen ging und ich es heute nicht geschafft hatte, zu fragen, wie ich Mum am besten beichten sollte, das mein Hockeyschläger schon wieder kaputt war. Und das ohne, das sie sonderlich böse auf mich wird.

Shawnmas - der Weihnachtskalender 2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt