War er irgendwie behindert? Oder vielleicht Mathematik Legastheniker? Oder doch wirklich einfach nur dumm? Er war beide Stockwerke eben zum dritten Mal abgerannt, hatte noch immer keine ungeöffnete Tür gefunden und verstand einfach nicht, warum er beim durchzählen jetzt schon zum zweiten Mal auf nur 23 Türen kam. Irgendwas musste in seinem Gehirn schiefgelaufen sein. Vielleicht lag es an den etlichen fast-Gehirnerschütterungen die er hier mehrfach hatte einstecken müssen, oder das Einatmen von dem Glitzer beim Schweben hatte ihn nachträglich doch noch psychisch beeinträchtigt. Feststand, dass er sich wie der allerletzte Idiot fühlte. 23 Türen. Nicht 24.
Ein letztes Mal ging er jede einzelne Tür ab, zählte exakter als er es je getan hatte und setzte sich zum Schluss frustriert vor die Eingangstür...
Die Eingangstür! Natürlich, also er war wirklich nicht mehr zu retten. Beim Durchzählen am Anfang hatte er auch die Eingangstür mitgezählt. ‚Vollidiot!', schimpfte er sich selbst und überlegte zwanghaft, was er jetzt tun könnte. Die Tür ließ sich nach wie vor nicht öffnen und er wusste nicht, ob er einfach nochmal in die erste Tür gehen sollte um nachzufragen ob das alles so richtig war. Doch das war gar nicht mehr nötig, denn wie auf ein Zeichen wurden auf einmal alle Türen gleichzeitig geöffnet und heraus traten die Personen denen er darin schon mal begegnet war.
Stumm liefen sie alle nach einander an ihm vorbei, drehten den Schlüssel in dem plötzlich vorhandenen Schloss um 90 Grad und verschwanden wieder wortlos in ihren Türen. Er beobachtete stumm das Geschehen, es gab keinen Grund einzugreifen. Einige lächelten ihm vielleicht noch zu, die anderen schauten Teilnahmslos, als hätten sie eigentlich etwas Anderes zu tun. Es gab genau eine Ausnahme. Der kleinere Junge, der als letzter und mit der üblich blassen Hautfarbe entgegen allen anderen nicht geradewegs zum Türschloss lief. Jemand, von dem er geglaubt hatte, dass er ihn nie wiedersehen könnte.
„Manu.", flüsterte er seinen Namen und fiel ihm um den Hals. Er wusste selbst nicht, was mit ihm los war, aber er hatte beschlossen, nicht mehr gegen die Stimme seines Herzens anzukämpfen. „Wie bist du – ich meine", das Gestotter war ja unmöglich... er atmete einmal tief durch, „Schön, dass du hier bist." Manuel lächelte leicht. Das verunsicherte ihn. „Stimmt irgendwas nicht?" Aber sein Gegenüber blieb weiterhin stumm. „Du musst den Schlüssel jetzt auch noch rumdrehen, nicht wahr?", versuchte er ihm ein paar Worte zu entlocken, blieb aber weiterhin erfolglos. „Also-" „-Hör zu", unterbrach er ihn plötzlich, „Was da passiert ist, vergiss es einfach. Das hätte so nie geschehen dürfen-" „Du bist blass.", es war eine Feststellung, begleitet von Sorge, Manu war immer blass, aber diesmal... und gepaart mit dem was er mitbekommen hatte. „Du siehst nicht gut aus.", vorsichtig legte er seine Hand auf die Schläfe des Jungen, betrachtete die Kratzer und Schrammen, die er mitgenommen hatte. Manuel lief eine Träne übers Gesicht. War es der Schmerz? Oder Trauer, Verlust? Er wusste es nicht. Und er würde auch nicht nachfragen.
„Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich bereit bist. Ob ich meine Sache gut genug gemacht habe. Aber ich glaube", er lief auf die Tür zu und drehte den Schlüssel um das letzte Stück herum, „du bist bereit." Die schwere Tür öffnete sich. Aber, nein, das ging nicht. Es gab noch so viel zu bereden, er wollte Manuel noch so viel fragen, er wollte verstehen.
„Geh.", sein Lächeln war aufmunternd, ermutigend. Es gab keinen Weg daran vorbei. Und ohne weiter darüber nachzudenken, nahm er Manu's Gesicht in seine Hände und küsste ihn.
„Wir sehen uns." Es war kein endgültiger Abschied. Und das war das Einzige, was zählte.
Diesmal war das Wort nicht golden. Nicht edel, nicht wertvoll. Es war schlicht. Vor seinen Augen brannten sich Buchstabe für Buchstabe 7 Zeichen in die schwere Eingangstür. Und als der leichte Qualm verflogen war, las er ein Wort, dass ihn innerlich zu Tränen rührte.
Dann drehte er sich um, in dem Wissen, dass er einen Großteil seiner selbst in diesem Haus zurücklassen würde. Abschied nehmen, dass war der Schlüssel zum
Frieden.
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„Hey, du bist doch der Typ vom Adventskonzert mit der heftigen Stimme?"
Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Mit ins Gesicht gezogener Kapuze lief er weiter, darauf bedacht, von keiner weiteren Person erkannt zu werden. Wenn alles, was darin passiert war jetzt jeder wusste... dann war er geliefert. Oder nicht? Nein. Eigentlich nicht. Eigentlich machte es ihm alles einfacher. Er würde sich vor niemandem rechtfertigen müssen, müsste keinem erklären, woher sein plötzlicher Sinneswandel kam. Nur mit einer Person hatte er noch immer etwas zu klären.
Und dann stand er dort, auf der anderen Straßenseite, schien nur darauf gewartet zu haben, dass Patrick endlich genau hier auftauchen würde. Manu, der ihm schüchtern Lächelnd zuwinkte.
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#Adventskalender2017 ~ Hinter verschlossenen Türen
FanfictionPatrick Meyer. Eine Person, die die meisten seiner Mitmenschen wohl als unausstehlich, arrogant und unfassbar abgehoben beschreiben würden. Ein Mensch, der alles andere als ein Vorzeigebeispiel für den angenehmen Zeitgenossen ist. Ein Charakter, de...