E L F

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Die nächste Tür führte ihn an einen Ort, der wohl kaum verhasster hätte sein können. Gelandet war er diesmal in seiner geliebten Schule. In einem Flur, durch den er tagtäglich laufen musste. Der Flur, in dem das schwarze Brett hing.

Und wie jeden Morgen warf er in einem unbeobachteten Moment einen sehnsüchtigen Blick auf den blass-grünen Zettel, der nicht mehr lange dort hängen würde. „ADVENTSKONZERT – Talente gesucht!". Das war eines seiner dunkelsten Geheimnisse. Ein Fakt, den niemals jemand erfahren durfte, weil es dann mit seinem Ansehen und guten Ruf vorbei wäre.

Singen war –und das verfluchte er seit langem- einfach seine Leidenschaft. Meistens, aber nur, wenn er ganz sicher allein Zuhause war, trällerte er für die halbe Nachbarschaft, was glücklicherweise eigentlich immer von der noch lauter aufgedrehten Musik übertönt wurde.

Doch anstatt wie jeden Morgen den Gang weiter geradeaus zu laufen, bog er heute in den linken Seitengang ab, ließ die Naturwissenschaftlichen Räume hinter sich, bis er schließlich in der Musik ankam. Das hier war nicht echt. Es war irgendein Fantasieort, den er durch wundersame Weise betreten konnte. Was sollte ihn also daran hindern, hier das zu tun, was er schon immer tun wollte. Keiner würde es wissen, wenn er wieder hier rauskam. Wenn er hier wieder rauskam.

Der Raum war weitestgehend leer, nur ein einziger, asiatischer Aussehender Schüler, der wohl für die Organisation zuständig war, rotierte durchgängig zwischen Bühne und Soundanlage hin und her, bis zu dem Moment, in dem er Patrick erblickte.

„Ah, da bist du ja. Der Direktor hat mich schon darüber informiert, dass du vor dem Auftritt heute Abend nochmal üben willst." „Entschuldige?" Der Junge, der während ihres gesamten Gesprächs noch kein einziges Mal von seinem Klemmbrett aufgeschaut hatte, schien zu denken, dass Patricks Aussage darauf bezogen war. Da das aber nicht der Fall war, versuchte er seine Verwirrung nochmal deutlicher auszudrücken: „Ich schätze, du verwechselst mich, ich bin überhaupt nicht auf der Liste für das Konzert." „Patrick Meyer. Das bist du doch, oder? Ich bin übrigens Julien. Du stehst jedenfalls als vorletzter Act auf der Liste." Er blätterte noch ein paar Seiten durch und schaute dann wieder Richtung Bühne. „Wenn du willst, kann ich dir auch gerne noch ein paar Tipps geben, ich kenn' mich ein bisschen mit Performing aus, aber ist nur ein Angebot."

In Anbetracht dessen, dass Patrick wohl tatsächlich dieses Konzert würde durchstehen müssen, nahm er das Angebot nur zu gerne an. Und er musste sagen, Ju war wirklich ein verdammt guter Coach.

Im ersten Moment, als er mitten auf dieser Bühne stand, war ihm einfach nur unwohl. Panik kam in ihm auf, als die Begleitmusik irgendwo in der Ferne einsetzte und er flehte Julien an: „Können wir mich nicht streichen? Bitte. Ich will hier runter." „Wieso? Du hast doch noch nicht mal angefangen." Die Musik hatte inzwischen wieder ausgesetzt, vermutlich hatte sein Laien-Coach pausiert. „Aber...", eigentlich fielen ihm selbst keine bedeutenden Argumente ein. „Gut, mach's nochmal an." Julien nahm sich ein Mikrofon und eröffnete Patricks Probe-Auftritt mit einem dramatischen: „Und jetzt, meine Damen und Herren, der einzigartige, der einzig wahre: Patrick Meyer!"

Patrick schmunzelte kurz und dann setzte die Musik ein. Dann geschah es. Er sang. Er sang tatsächlich in –quasi- aller Öffentlichkeit. Und ohne es mitbekommen zu haben, aus, man konnte es wirklich nicht anders sagen: Zauberhand, waren all die Stühle vor ihm plötzlich nicht mehr leer. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt. Doch das störte ihn nicht. Unbeirrt machte er weiter, ließ seinen Blick langsam durch die Menge schweifen. Der Junge dahinten, täuschte er sich, oder war das wieder Manuel, der ihn dort mitfiebernd anlächelte?

Als der Song zu Ende war, die letzten Worte gesungen, fühlte er sich großartig. Die Menge war aufgestanden, er erhielt tosenden Applaus und erfuhr eine Form von Aufmerksamkeit, die er so noch nie kennengelernt hatte. Eine, die er zugegebenermaßen noch mehr genoss, als die sonstige, geheuchelte Aufmerksamkeit, die ihm so oft zuteil wurde.

Voller Euphorie stolzierte er von der Bühne, ließ sich von allen Seiten loben, bis er sich dazu entschied, seine Schule wieder zu verlassen. Er hatte das erste Mal, seit er in dieses Haus gekommen war, das Gefühl, tatsächlich etwas richtig gemacht zu haben.

Und die Tür bestätigte dies. Das elfte Wort war

Selbstverwirklichung.

#Adventskalender2017 ~ Hinter verschlossenen TürenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt