S E C H S

156 30 0
                                    


Aufgrund seiner letzten Taten rechnete er eigentlich nur damit, dass heute wieder irgendwas Schlimmes auf ihn zukommen würde. Es würde ihn auch nicht wundern, wenn er in einem Hörsaal in einer Chemie-Vorlesung landen würde, oder noch schlimmer: In einem Altersheim, in dem gerade eine Grippewelle ausgebrochen war. Doch es kam anders. Hinter Tür sechs verbarg sich ein einfacher Trampelpfad, der direkt auf eine Weggabelung zuführte. Er kam sich vor, wie in einem dieser gruseligen Märchengeschichten, dass vor etwas längerem nochmal realistischer neu verfilmt worden war. Der Weg vor ihm teilte sich also in zwei Richtungen auf. Die linke sah aus, wie der Trampelpfad, den er bis hierher bereits gegangen war, ziemlich eintönig und zugegebenermaßen auch ein wenig öde. Der rechte dagegen hatte etwas ausgefallenes, Kurioses. Er führte in einen düsteren Wald, mit Bäumen, deren Äste orientalischen Ornamenten glichen und Augen, die ihn so hell gelb anblinzelten, dass sie nicht natürlich sein konnten. Die Beschilderung der beiden Wege war relativ einfach gehalten.

Der linke Weg war als die Fortführung seines jetzigen ausgeschildert, der rechte hingegen wurde mit einem verrotteten, aber eindeutigen Holzkreuz als verboten markiert. Seine Vernunft sagte ihm selbstverständlich, dass er den langweiligen Weg nehmen sollte, aber er hatte in letzter Zeit so viel Langeweile ertragen müssen. Eigentlich war mal wieder Zeit für ein bisschen Aktion. Und so entschied sich der draufgängerische Teil seines Gehirns dazu, den Vernünftigen auszustellen. Es lohnte sich, der Grusel, den er verspürte, war aufregend und die ständig drohende Gefahr, die er sich einbildete, ließ ihn verdammt mutig fühlen. Doch kaum war der verschnörkelte Wald zu ende, ging es nicht weiter. Eine verkommene Brücke blockierte seinen weiteren Weg. Sie war vermodert und an einigen Stellen zerfallen, fast wie die bemoosten Hängebrücken, die man in Kindertrickfilmen so gerne verwendete.

Es wäre riskant, natürlich. Aber zurückgehen wollte er auch nicht, jetzt, wo er schon so weit gekommen war. Entweder, er würde es wagen und dabei einiges auf Spiel setzten, oder...

Und noch während er so darüber nachdachte, ob er es riskieren sollte oder nicht, rutsche binnen Sekunden der Boden unter seinen Füßen weg. Da war es. Die Strafe für all seine Fehlentscheidungen. Die Rache, für das Risiko, das er viel zu breitwillig eingegangen war. Das Ende dieser Reise. Er sah es schon vor sich. Die Schmerzen, die er beim Aufprall spüren würde, all die Worte, die er dem ein oder anderen Menschen noch hätte sagen wollen. Für all das war es zu spät. Er wartete auf den Aufprall, wartete und wartete, doch es geschah nichts. Lediglich ein schmerzendes Gefühl um seine Handgelenke machte sich breit. Hatte er so viel Glück gehabt? Hatten sich etwa Wurzeln oder irgendwelche anderen Pflanzen um seine Handgelenke geschlungen und ihn somit vor dem Unvermeidlichen bewahrt? Doch als er aufsah, war da nichts von alle dem. Von oben herab hatten die starken Hände einer verhüllten Person seine Handgelenke umfasst und er wurde langsam nach oben gezogen. Er konnte nicht mal das Gesicht erkennen, die schwarzen Stofffetzen bedeckten zu viel. Erst als er wieder mit beiden Füßen stand konnte er ein gräulich-grünes Auge durch die Lumpen hindurch erkennen.

Nur fern nahm er war, dass die Gestalt zu reden begann, mit verzerrter Stimme: „Ich hoffe dir muss' in Zukunft nicht mehr so oft geholfen werden..." Außer Atem und immer noch starr vor Schreck klammerte er sich an den festen Boden, hätte ihn, wäre er nur ein bisschen weniger bei Verstand gewesen, vielleicht sogar geküsst. Doch noch ehe er der dunklen Person danken konnte, war diese auch schon wieder verschwunden. Ein plötzlicher Schwindel überkam ihn und er kniff benommen die Augen zu, krallte sich in das weiche Gras, das sich, als er die Augen wieder öffnen konnte, auf einmal in roten Teppich verwandelt hatte. Verdutzt blickte er sich um, sein Helfer war verschwunden, ebenso der geisterhafte Wald und die tödliche Brücke. Einzig und allein die dreckigen Flecken auf seiner Hose waren geblieben.

Und immer noch unwissend, wer der Fremde war, der ihn da gerettet hatte, blickte er genauso versteinert die Tür an, in der er eben noch fast umgekommen war. Dort stand

Dankbarkeit.

#Adventskalender2017 ~ Hinter verschlossenen TürenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt