Sechs

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Während die Familie frühstückte verzog sich Mina in die Bibliothek. Sie war vor allem von den Sammlungen alter Autoren beeindruckt. Charles Dickens, Jules Verne, Arthur Conan Doyle, Mark Twain und Jane Austin. 

Sie konnte sich kaum an der unglaublichen Sammlung sattsehen. Aber viel eher fragte sie sich, woher der Graf das Geld hatte, um das alles zu bezahlen. Hatte der Geld und Titel geerbt? Vermutlich. Mina hatte keine Ahnung von Adeligen oder Reichen. Sie kannte nur die einfachen Dinge. Sie war mit ihren Großeltern, ihren Eltern und ihrem Bruder in Mirrorvalley aufgewachsen. Vor neun Jahren starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Ihre Großmutter hatte danach vor vier Jahren den Kampf gegen einen bösartigen Tumor verloren. Seitdem sprach ihr Großvater kaum noch. Der früher mal so lustige, unternehmungsfreudige Mann endete im Rollstuhl.

Deswegen hatte Mina auch diesen Job hier angenommen. Sie verdiente gut. Das ursprüngliche gesparte Geld für ihr Studium brauchten sie für Medikamente und ärztliche Behandlungen. Nur so kam sie ihrem Traum selbst Ärztin zu werden ein bisschen näher.

Ihre Gedanken wurden von einem lauten Reifenquietschen unterbrochen. Darauf hin hörte sie ein lautes Krachen. Sie rannte aus der Bibliothek nach draußen. Der Wagen, mit dem man sie gestern abgeholt hatte, war gegen eine der niedrigen Trennwände an der Seite gekracht. Vorne war er totaler Schrott. Qualm stieg auf. Aiden kam im selben Moment wie Mina angerannt. "Was ist  passiert?", fragte er. "Ich weiß es nicht. Ich hab nur den Krach gehört.", sagte sie, während sie zur Fahrertür stolperte. Wie vermutet saß Mr. McLean noch darin. Aus einer Schramme am Kopf drang Blut und er atmete nur flach. Eigentlich hätte Mina in Panik geraten müssen, aber sie hatte schon unzählige Erste-Hilfe-Kurse absolviert. "Hilf mir, ihn rauszuholen.", sagte sie. Schon stand Aiden wie eine haltgebende Mauer hinter ihr. "Okay, wir dürfen ihn nur so wenig wie möglich bewegen. Er könnte nicht sichtbare Verletzungen an Hals oder Wirbelsäule haben." Aiden nickte. So sanft und vorsichtig wie es eben ging zogen sie ihn aus dem Auto.

Sie lehnten ihn vorsichtig gegen die Mauer. "Ich hol einen Krankenwagen.", bestimmte der junge Graf mit ausdrucksloser Miene und griff nach seinem Handy. Mina suchte nach Knochbrüchen oder sonstigen Verletzungen. Aber alles sah aus, als hätte er nur die Schramme und eine Gehirnerschütterung davon getragen. "Hilfe ist unterwegs. Sie sind in ungefähr 30 Minuten hier. Hier rauf braucht man länger." "30 Minuten?", fragte Mina ungläubig. "Ja!", knurrte Aiden sichtlich genervt, ohne sie anzusehen. "Schön. Jedenfalls glaub ich mal, dass er nur eine Gehirnerschütterung hat. Seine Atmung hat sich normalisiert und die Wunde am Kopf sollte schnell genäht sein." "Ich dachte du wärst bloß ein Kindermädchen, aber anscheinend hast du auch eine Krankenschwester-Ausbildung." Er sagte das, als wäre es Kinderkram. Dann stand er auf und wollte sich aus dem Staub machen. "Geht's noch? Du willst ihn jetzt allein lassen?" "Du bist doch bei ihm. Mehr Hilfe braucht er nicht." Aiden lächelte und Mina konnte unmöglich sagen, ob es ernstgemeint oder spöttisch war. Auf jeden Fall hatte er ein umwerfendes Lächeln. Ihre Wangen begannen zu brennen, entweder aus Wut oder wieder aus Verlegenheit. Sie widmete sich wieder Mr. McLean, der langsam den Kopf bewegte. 

Eine Stunde später starrten das ganze Personal, Mina und die Carters, mit Ausnahme von Aiden, dem Rettungswagen nach, der Mr. McLean ins nächste Krankenhaus brachte. Mina hatte mit ihrer Vermutung laut den Sanitätern richtig gelegen. Sie wollten ihn noch eine Nacht zur Kontrolle behalten. Olivia sah noch mitgenommener als alle anderen aus. Mina bückte sich zu ihr nach unten. "Keine Sorge, Kleine. Es wird alles wieder gut. Mr. McLean kommt bald wieder nach Hause." "Versprochen?" Das war das erste Mal, dass das Mädchen etwas zu Mina sagte, bzw. sie etwas fragte. Mina lächelte aufmunternd. "Versprochen! Und jetzt ist es Zeit für den Schwimmunterricht. Der lenkte euch ab." Sie führte die beiden zum Pool. Ein paar Minuten später kam ein junger Mann angerannt. Er sah ein bisschen wie ein australischer Surfer aus, mit der gut gebräunten Haut, den etwas zu langen blonden Haaren und den blauen Augen. Als er die drei anlächelte, entblößte er eine Reihe ebenmäßiger, weißer Zähne. Er gab Mina die Hand. "Hi. Ich bin Mike, der Schwimmlehrer." "Mina. Das Kindermädchen." "Mir ist vorhin ein Krankenwagen entgegengekommen. Ist alles okay?" "Der Fahrer, Mr. McLean hatte einen Unfall." "Der Arme. Ich hoffe er erholt sich schnell." Er legte seine Sporttasche ab und ging zu den Kindern, die am Beckenrand die Füße ins Wasser hingen ließen. Olivia trug einen dunkelblauen Badeanzug und Ethan eine Badehose in derselben Farbe. "Hallo, ihr beiden!", begrüßte er sie mit einem charmanten Lächeln, das dem von Aiden ganz ähnlich war.

Die beiden grinsten, als sie ihn bemerkten. Sie schienen ihn zu mögen. Beim Schwimmen machte Olivia eine deutlich bessere Figur als ihr Bruder. Dieser strampelte viel zu stark und konnte den Kopf kaum über Wasser halten, aber er gab sich Mühe. Mina setzte sich auf eine der Liegen, die um den Pool verteilt waren und sah den dreien zu. Mike war bei ihnen im Wasser. Er war ziemlich gut trainiert. Sie bemühte sich, ihn nicht wie eine Dreizehnjährige anzugaffen und widmete sich dem Buch, das sie sich gestern aus der Bibliothek geholt hatte. Und für einen Moment schien der Tag sich doch noch zum Guten zu wenden.

Die Schöne und das Biest (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt