Zehn

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Schließlich wurde es Samstagabend. Mina stand im Bademantel vor ihrem Schrank und überlegte fieberhaft, was sie anziehen sollte. Sie besaß nur ein Kleid und das war ihr für den Abend doch ein wenig zu schick. Also entschied sie sich für eine weiße Hose, eine hellblaue Bluse und schwarze Ballerinas. Die Haare steckte sie zu einem lockeren Knoten hoch. Eigentlich trug sie nie Make-Up. Diesmal machte sie eine Ausnahme und trug zumindest etwas Puder auf. Dann betrachtete sie sich zufrieden im Spiegel.

Mike war zwar zehn Minuten zu spät, aber das störte sie nicht besonders. Sie musste ohnehin die Kinder zu Bett bringen. "Hey, Mina?", fragte Ethan, als sie ihn zudeckte. "Ja?" "Wann kommt eigentlich Aiden wieder nach Hause?" "Bei euch war er auch nicht?" Er schüttelte den Kopf. Mina war selten so wütend auf jemanden gewesen. War es ihm so egal, dass seine kleinen Geschwister ihn vermissten?

"Ich weiß es nicht. Aber er kommt sicher bald zurück.", versprach sie und ging zu Mike nach unten. "Können wir?", fragte er leicht genervt. "Mhm.", gab sie mit einem falschen Lächeln zurück. Sie hatte nun mal ihre Pflichten als Kindermädchen. Das durfte er nicht vergessen.

Eine Stunde später saßen sie in einem netten Lokal in der Stadt. "Also.", begann sie, nachdem sie bestellt hatten. "Du wolltest mir noch etwas erzählen." Mike steckte sein Handy weg, mit dem er vorhin die ganze Zeit über herumgespielt hatte. "Genau. Was war das noch gleich?"

"Du wolltest mir erzählen, was so seltsam an den Carters ist!" "Richtig. Es ist so: Mein Dad ist eine Art Geschäftspartner von dem alten Carter. Er sagt oft, dass dieser sich oft in seinem Büro verkriecht und alle anderen alles regeln lässt. Da kämen wir auch zu Aiden. Der ist der seltsamste Vogel von allen. Er verschwindet mal für ein paar Tage, dann macht er oft Nachtwanderungen oder streift durch das Haus. Die Kinder werden dadurch total vernachlässigt. Er wäre das Beste, man würde sie von dort wegholen."

Mina stand der Mund offen. Wie konnte er so etwas sagen? Sie wollte ihn genau das fragen, als der Kellner ihre Bestellung brachte. Den Rest abends lief es nicht besser. Mike sagte nichts mehr über die Carters, erzählte aber dafür viel von ihm. Wie viele Preise er schon bei Schwimmtunieren gewonnen hatte, dass er bald in dem Pharmaunternehmen seines Vaters Karriere machen würde... und so weiter.

Wirklich tolles erstes Date, dachte Mina, als sie endlich die Einfahrt von Shadowmanor erreicht hatten. Mike stieg mit aus und begleitete sie zur Tür. Er kam ihr sehr, sehr nahe. "Ähm, danke. Es war ein ... interessanter Abend.", sagte sie zögerlich. Er zog sie an der Taille noch näher heran. "Klar." "Lass mich bitte los, Mike.", piepste sie. "Ach, komm schon." Dann drückte er seine Lippen unsanft auf ihre. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber er war stärker und drängte sie gegen die Hauswand. Seine Finger kamen dem Ende ihrer Bluse gefährlich nahe. Seine Lippen glitten von ihrem Mund zu ihrem Hals. "Mike, LASS MICH LOS!!!"

Plötzlich wurde er tatsächlich von ihr weggerissen und selbst gegen die Wand gedrängt. Eine Gestalt rammte ihm eine Faust ins Gesicht. "Rühr sie noch einmal an und du bereust es!", drohte eine tiefe Stimme. Aiden. Mike wurde losgelassen und sank halb bewusstlos zu Boden. Dann rappelte er sich hoch und verpasste ihm ebenfalls einen Schlag. Aiden parierte sofort und diesmal in die Magengrube. Mike spuckte Blut. Mina konnte sich einen Aufschrei nicht verkneifen. Aiden stellte sich schützend vor sie. Mike humpelte zu seinem Wagen und fuhr davon. Mina ließ sich auf die Treppe am Eingang fallen. "Alles in Ordnung? Hat er dich verletzt?" Zum ersten Mal klang seine Stimme besorgt.

"Nein, alles okay. Da ... danke." Sie zitterte. Erst dachte Mina, Aiden würde wieder weggehen, so wie er es immer tat. Doch dann machte er etwas völlig Unerwartetes. Er setzte sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

Sie konnte oder wollte gar nicht darüber nachdenken, warum er das tat. Sie genoss diesen tröstenden Moment einfach. Vielleicht weil sie Angst hatte, dass er viel zu schnell wieder vorbei sein würde. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, wie Mike sie geküsst hatte. Sie schluckte schwer und konnte es nicht verhindern, dass ihr ein paar Tränen hinunterliefen. "Hat er dich wirklich nicht verletzt?", fragte Aiden leise. "Nein, du warst im richtigen Moment da. Danke, nochmal." "Kein Problem." Er ließ sie langsam los und stand auf. Sofort fehlte ihr seine Wärme.

"Ich geh dann mal.", sagte er kaum hörbar. "Warte mal, bitte." Er blieb wirklich stehen. "Aiden, bitte geh zu Ethan und Olivia und rede mit ihnen. Du fehlst ihnen." Er fuhr sich durch die Haare. "Das geht nicht." "Was könnte wichtiger als dein kleiner Bruder und deine kleine Schwester sein?" "Verdammt, nichts! Aber ich bringe die beiden in Gefahr, wenn ich mehr Zeit mit ihnen verbringe. Und ... dasselbe gilt auch für dich." Sie wollte ihm hinterher schreien, dass er nicht immer weglaufen soll, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Die Schöne und das Biest (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt