Fünf

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Ihre erste Nacht auf Shadowmanor verlief für Mina nicht gerade gut. Obwohl sie todmüde war, lag sie nur in ihrem Bett und starrte die Decke an. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte halb Eins an. Sie musste in fünf Stunden aufstehen. Seufzend drehte sie sich zum hundertsten Mal auf die Seite und starrte aus dem Fenster zum Balkon. Von dort hatte man eine wundervolle Aussicht auf den Garten. 

Ohne groß nachzudenken schlug sie die Decke zurück und betrat den Balkon. Es war zwar Sommer, aber dennoch kalt. Mina trug nur eine Jogginghose und ein Shirt. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper. Lächelnd sog sie die frische Luft ein. Der Duft der Rosen drang bis zu ihr zum Balkon herauf. Sie lehnte sich auf das Geländer vor. Shadowmanor war nur von Wald und Bergen umgeben. Draculas Schloss hatte wohl auch keine bessere Aussicht. Mina war ein Dorfmensch, der das weite Land und die Küste gewohnt war. In dieser Einöde kam sie sich fast schon ... eingesperrt vor. Von dem Gruselhaus in dem sie momentan wohnen musste mal abgesehen. 

Seufzend wandte sie den Blick zu dem kleinen Teich in der hinteren Ecke des Gartens. Die Statue eines Tigers stand davor. Es sah fast so aus, als wolle er den Teich bewachen. Ruhig lag der Teich da und der Mond und die Sterne spiegelten sich auf der Wasseroberfläche. Plötzlich rührte sich etwas in der Ecke dahinter. Eine Gestalt, ein Tier, trat in den Garten. Sie sah in Statur und Größe der Tigerstatue verdammt ähnlich. 

Mina riss die Augen soweit wie möglich auf und lehnte sich noch weiter vor. Sie träumte bestimmt. Sie musste träumen! Da war ganz sicher keine lebendige Raubkatze im Garten der Carters. Sie schloss die Balkontür hastig, legte sich ins Bett zurück und schloss ihre Augen. Egal wie sehr sie es wollte, sie öffnete sie nicht mehr, bis sie endlich in einen erlösenden Schlaf fiel.

"Mina!", rief eine Stimme. Sie wusste, wer das war. "Mina!" Sie wollte auf die Stimme zulaufen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Sie konnte sich von dem Anblick vor ihr nicht losreißen. Da war dieser Teich und er war irgendwie besonders. Das wusste sie, obwohl sie sich nicht erklären konnte warum. Dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Nun drehte sie sich doch um und sah ihrem Bruder ins Gesicht. Nur für eine einzige Sekunde, bevor er sich einfach auflöste. Puff! ... als wäre er nie bei ihr gewesen. Dafür kam jemand anderes auf sie zu. Ihr Großvater. "Mina?", fragte er. Sie konnte nicht sprechen. "Hör auf die alten Geschichten. Lass sie dir erzählen und folge nur der Wahrheit." Dann verschwand auch er. Mina kniete sich an das Ufer des Teichs und streckte eine Hand vorsichtig in das kühle Wasser. Immer weiter, bis sich schließlich ganz darin versank und die Welt um sie herum verschwamm...

Keuchend schlug Mina ihre Augen auf und setzte sich kerzengerade in ihrem Bett auf. Die aufgehende Sonne warf ihre Strahlen ins Zimmer und tauchte es in orange-gelbes Licht. Keine Minute später klingelte der Wecker. Verwirrt stellte sie ihn ab. Was war das bitte für ein Traum?

Sie trottete ins Bad und gönnte sich eine heiße Dusche. Das warme Wasser ließ sie wieder klarer denken. Mit zwei Handtüchern, eines um den Kopf und eines um den Körper, stellte sie sich vors Waschbecken und begann gähnend ihre Zähne zu putzen. Unter ihren grünen Augen lagen dunkle Ringe. Sie war müde, dass wusste sie, aber so fertig hatte sie schon seit ihrer Schulzeit nicht mehr ausgesehen. 

Sie föhnte sich ihre dunklen Locken und zog sich an. Ein Shirt und eines Jeans waren wohl die beste Wahl. Dann ging sie ins Esszimmer fürs Personal um zu frühstücken. Dort waren schon die beiden Dienstmädchen und die Köchin Mrs. Clarkson anwesend. "Guten Morgen.", begrüßte Mina die drei. Jenny und Emma erwiderten ihren Gruß zaghaft, während Mrs. Clarkson sie ganz ignorierte. 

Zum Frühstück gab es Rührei mit Paprika, Buttertoasts und Kaffee oder Tee. Wie schon beim Abendessen sagte niemand ein Wort. Auch nicht als der Rest der Personals auftauchte. Mina begrüßte alle, aber nur selten bekam sie eine Antwort. Schließlich gab sie es auf und verließ nach dem Frühstück seufzend den Raum. Und auf seltsame Weise wusste sie, dass ihr dabei alle hinterherstarrten.

Die Kinder waren noch müder als Mina. Sie schafften es kaum, die Augen offenzuhalten. "Habt ihr denn selbst in den Ferien Hausunterricht?", fragte sie leicht schockiert. Ethan schüttelte den Kopf. "Vater bezeichnet es gerne als Unterricht. In Wahrheit ist es nur ein Schwimmkurs, den wir uns selbst ausgesucht haben." "Sagt bloß, ihr habt einen Pool?" Die beiden schauten sie an, als wollten sie gleich loslachen. Das tat Ethan dann auch. "Was denkst du denn? Hinter dem Haus auf der großen Terrasse." Der Kleine sagte das so, als wäre es dir Normalste Sache der Welt. 

Sie setzte die beiden beim Speisessaal ab und wollte wieder nach oben gehen. Wieder rannte beim Verlassen des Saals beinahe in jemanden hinein, nur dass es diesmal nicht der Aiden, sondern der Graf selbst war. "Tut ... tut mir leid, Sir. Ich-." Er hielt seine Hand abwinkend hoch. "Keine Sorge, ist ja nichts passiert, Miss ... äh ..." "Connor.", half sie ihm auf die Sprünge. "Connor, genau." Plötzlich schien er in Gedanken zu versinken und ging wie hypnotisiert an ihr vorbei zu seinen Kindern. 

Die Schöne und das Biest (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt