Kapitel 18

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Ein weiterer Avox begleitete mich aus dem Trainingscenter und fuhr mit mir in dem Aufzug nach oben. Ich wusch meine Hände, die noch voller Beerenpampe waren und mich sicherlich umgebracht hätten, hätte ich eine kleine Schnittwunde oder sonstiges an meiner Hand gehabt. Glücklicherweise war der Schnitt, den ich mir vor einigen Wochen beim Schneiden von Stoff für ein Oberteil zugezogen hatte, inzwischen zu einer krustigen Narbe geworden, die von nun an meinen linken Zeigefinger zieren würde. Es hatte so stark geblutet, dass ich eine Zeit lang einen dicken Verband um meinen Finger getragen hatte. Ich wischte ein wenig über den bröckeligen Schorf, kratzte daran. Ein großes Stück löste sich und verschwand mit der restlichen Beerenmischung im Abfluss. Zurück blieben eine sehr viel kleinere Narbe und das Geräusch von Wasser wie es fließt und gurgelnd ins Rohr fällt. So würde ich enden. Eine kurze Zeit lang so wichtig und von großer Bedeutung für das Kapitol und zum Schluss so banal wie ein Sack Kartoffeln auf dem Tisch, den man mit einer leichten Geste aus Versehen umstößt und die unförmigen Knollen über den Boden kullern lässt. Ich drehte den Wasserhahn ab, zog mir die Sportsachen, die bestimmt einer der Leute in Distrikt 8 genäht hatte, aus und wechselte zu meiner Jacke. Sie war inzwischen zu etwas wie meinem Erkennenungszeichen geworden und ich war sogar ein wenig stolz, meinen eigenen Style etabliert zu haben. Auch wenn das nur bedeutete, dieselbe Jacke immer wieder anzuziehen. In Distrikt 8 war das kaum möglich gewesen. Wir konnten zwar nähen, jedoch wurde sämtlicher Stoff zu den gleichen T-Shirts und Röcken verarbeitet, die alle trugen, weil sie am wenigsten Stoff verschwendeten. Es war schon etwas besonderes gewesen, wenn jemand mal eine knallige Farbe wie rot oder gelb getragen hatte. Die Farben, die man normalerweise trug, wirkten alle ein wenig angestaubt und waren seit Jahrzehnten die gleichen. Blau, grün, grau, braun und altrosa. Sonst gab es nicht viel. Und obwohl ich gelbe, rote, türkise Oberteile zur Verfügung hatte, trug ich weiterhin blau und grün. Und meine Jacke. Immerhin hatte mich das Kapitol noch nicht ganz verdorben mit seiner grellen bunten Plastikwelt. Ich klopfte bei Siloh an die schwere Eichenholztüre, die einen schönen Kontrast zu dem weißen Marmorboden bildete. Sie saß auf ihrem Bett und ließ sich ein Interview zwischen zwei Menschen aus dem Kapitol, die ich noch nie gesehen hatte, an die Wand projizieren. ,,Siloh? Wollen wir uns die Ergebnisse des Trainings ansehen? Wär doch ganz interessant. Das kommt bestimmt gleich." ,,Ich hab eh nicht aufgepasst", bejahte sie achselzuckend, während sie auf eine Fernbedienung in der Wand drückte und das Bild mit den Kapitolern der Glasfassade hinunter auf den Platz wich. Die sprang zu der Couch, die bereits von Stev, Trisha, Liahs Kleid und sogar von Fillodo und Hestia, Siloh Stylistin eingenommen wurde. Für uns blieb nur ein kleiner Teil am Ende des Sofas und ein Sessel, weswegen Siloh sich wie selbstverständlich in den Sessel flätzte und für mich nur das restliche Sofa neben Liah und ihrem Kleid übrig blieb. ,,Wir dachten schon, ihr kommt zu spät...", murmelte Liah leise in ihren Tüll hinein, doch da ich neben ihr saß konnte ich es deutlich hören. Ich mochte sie nicht. Siloh mochte sie auch nicht. Glücklicherweise mussten wir das auch nicht. Wir würden sie noch einen Tag und einen Morgen sehen und danach nie wieder. Dass wir danach auch nie wieder jemand anderen sehen würden, war nunmal eine unglückliche Nebenwirkung. Während noch das Interview mit den Kapitolern gezeigt wurde, blickte ich neidisch zu Siloh, die quer in dem Filzsessel lag und ihre Haare betrachtete. Wahrscheinlich spielte sie gerade mit dem Gedanken, sie mit Blaubeeren einen Tag vor den Interviews noch zu färben. Nur um das Kapitol zu schocken. Um mich ja nicht aus das goldene Kleid mit roten Ornamenten von Liah zu setzten, saß auf der Kante des Sofas alles andere als bequem. Sogar auf den dünnen Holzbänken in der Schule, die am Tisch montiert gewesen waren, war es bequemer gewesen. Doch Liah machte keine Anstalten, den üppigen Tüll und den Satin mal beiseite zu räumen. Danke für nichts. Die beiden Kapitoler in der Übertragung waren fertig mit ihrem Gespräch, dem niemand Aufmerksamkeit geschenkt hatte und Plinax Praia wurde eingeblendet. Die Aufmerksamkeit unserer kleinen Runde wandte sich nun ganz ihm zu. Er begann mit den Karrieros, die allesamt um die 9 Punkte bekamen. Nach den beiden aus 1 und 2 waren Dem und Bug an der Reihe. Neben Portraits und der Punktzahl wurde immer ein kurzer Ausschnitt der Bewertung eingefügt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir gefilmt worden waren. Dems Portrait wurde begleitet von einem Video, in dem er mit dem Langschwert, mit dem auch schon Lucretius gearbeitet hatte, eine der Gummipuppen bearbeitete, bis sie zum Schluss nur noch aus einem durchlöcherten Torso bestand, von dem lose der rechte Oberarm baumelte. Bei diesem Anblick, war ich echt froh, von ihm in der Arena erst einmal nichts befürchten zu müssen. Ich erwartete eine hohe Punktzahl wie acht oder gar neun, doch scheinbar war ich einer anderen Meinung, als die Sponsoren. Plinax Praia verkündete mit stocksteifer Miene drei Punkte und machte dann mit Bug weiter. Entgeistert blickte ich auf Siloh, die mich ebenfalls nur ratlos anblickte. Drei Punkte waren nicht gerechtfertigt für dieselbe Leistung, für die ein Karriero 10 Punkte bekommen hatte. Hatte das Kapitol Dem und mich nun auf dem Kieker und wollte uns möglichst hoffnungslos darstellen? Doch das würde bedeuten, dass auch ich eine niedrige Punktzahl bekommen würde. Wäre das der Fall, wäre ich mir sicher. Es galt nur noch zu warten. Ich war gespannt, was Bug vorgeführt hatte, da bei ihm keine verräterischen Geräusche zu uns durchgedrungen waren. Ich hatte von ihm etwas wie Klettern oder Rennen erwartet, doch stattdessen verband er einige der künstlichen Wunden mit einer selbsthergestellten Salbe und desinfizierte sie sogar teilweise. Er hatte also die Mullbinden aufgebraucht. Als Plinax 7 Punkte verkündete, zog Liah neben mir hörbar Luft ein. Dass ein Zwölfjähriger mehr als fünf Punkte bekam, grenzte schon fast an ein Wunder. Auch Siloh war überrascht von der plötzlichen Wendung, die Bug mit sich gebracht hatte. Er hatte immer wie Dems kleines Anhängsel gewirkt, das man nunmal ertragen musste, wenn man Dem wollte. Sie setzte sich in ihrem Filzsessel auf, rieb sich die Stirn und flüsterte:,,Scheiße, Bug. Spiel halt nicht immer den Verlierer..." Der Zeremonienmeister fuhr mit dem Taubenmädchen fort, das auf dem Porträt noch mehr wie ein Vogel aussah. Ich beugte mich zu Siloh vor und stützte mich auf der Filzarmlehne ab, während der glatzköpfige Mann mit grünem Stoppelbart 10 Punkte für das Mädchen mit den Messern verkündete. ,,Siloh, findest du nicht auch, dass dieses Mädchen unglaublich wie ne Taube aussieht?!" ,,Welches Mädel? Die da?", fragte sie unglaubwürdig und zeigte auf das Bild, das bereits das andere Mädchen aus Distrikt 4 mit den spitzen Zähnen zeigte. ,,Natürlich die. Diese Ähnlichkeit, siehst du es nicht? Mann du Idiotin, natürlich nicht die! Dory Blablabla. Aus Distrikt vier. Graue Haare, lila Strähne, Messer, kam grad dran. Na, klingelts irgendwo?!", antwortete ich genervt. Patzig konnte nicht nur Siloh. Unkonzentriert zu sein, konnte ich ihr nach gestern Abend und der Stunde in dem eiskalten Betonraum zwar nicht verübeln, aber ich war nun einfach genauso angenervt. Wahrscheinlich eine Nebenwirkung des bevorstehenden Todes. Oder des Hasses und der Wut auf das Kapitol, uns aus unseren Leben zu reißen und quasi öffentlich hinrichten zu lassen. Vermutlich eine Mischung aus beiden. Die Sendung war inzwischen zu Distrikt 5 vorgedrungen, als ich mich zurücksetzte und Siloh mich bitter ansah. Hatte ich sie mir durch diesen Satz so kurz vor der Arena noch zum Feind gemacht? Wohl kaum. Doch so richtig kennengelernt hatte ich sie in den letzten vier Tagen nicht. Ich schluckte. Ich hatte gedacht, dass wir etwas wie Freundinnen wären, doch wenn man es genauer betrachtete, waren wir nur Fremde mit dem gleichen Schicksal. Das erste Mädchen aus Distrikt 6 wurde gezeigt. Sie hatte kurze stoppelige fast weiße Haare und hatte mit minderem Erfolg Bogenschießen vorgeführt. Sie bekam zwei Punkte, die eher als Trostpunkte zu verstehen waren. Nach ihr kam ihr Mittribut, der den Applaus erhalten hatte. Ich war gespannt zu sehen, was sie vorgeführt hatte und rutschte noch ein wenig weiter an die Kante des Sofas, die sich in meinen Oberschenkel bohrte und einen netten Abdruck hinterlassen würde. Erst wurde ihr Gesicht eingeblendet, das aus der Leinwand heraus auf irgendeinen fernen Punkt hinter uns zu blicken schien, den nur sie sehen konnte, dann der Videoclip ihres Vortrags. Sie hatte an drei Messer Taue gebunden, diese wie ich mit einem Stoff umwickelt und in Brand gesetzt. Durch einen Kameraschwenk auf die Sponsoren konnten wir alle auf dem Sofa erkennen, wie begeistert sie waren von etwas spektakulärem, das sie dazu vorher auch noch nie gesehen hatten. Als das kleine eher zierliche Mädchen mit den langen dunkelbraunen Haaren die Seile um ihren Körper wirbelte, war sie fast völlig umgeben von einem Ring aus züngelnden Flammen, der ihr Gesicht in ein leuchtendes Orange tauchten. Nachdem sie die die brennenden Seile auch noch auf eine der Puppen geworfen und in den Bauch und die Arme getroffen hatte, gab es für die Sponsoren kein Halten mehr. Sie applaudierten, als hätten sie noch nie etwas spektakuläreres gesehen, und das trotz 125 Jahren Hungerspielen. Plinax Praia schien die Punktzahlen vorher nicht zu kennen, denn, obwohl er versuchte es zu verstecken und einfach weitermachte, weiteten sich seine Augen einen kurzen Augenblick, bevor er ihre Punktzahl verkündete:,, 11 Punkte für Samara Ford aus Distrikt 6." ,,Wow.", war Silohs betont gelangweilter Kommentar, wofür sie einen bösen Blick von Stev einfing. ,,Die scheint gute Chancen zu haben, in der Arena zu überleben.", bemerkte Silohs Stylistin, doch bevor jemand etwas erwidern konnte, wurde es still im Raum, denn neben Plinax Praia wurde gerade das Bild von Siloh eingeblendet. Der Siloh neben uns war es sichtlich unangenehm, dass wir alle sie im Fernsehen sehen konnten, wie sie im Trainingscenter stand, das Gesicht voller Erde, und sich mit grüner Farbe, die sie aus irgendwelchen Kräutern gewonnen hatte, die blaue Trainingskleidung einfärbte. Nach einem Schnitt konnten wir sehen, wie sie in ein paar Büschen verschwand und nicht mehr zu sehen war. Ich versuchte wirklich, sie in dem Dickicht aus Plastikblättern zu erspähen, aber dadurch, dass das Video sofort wieder verschwand und von Silohs Gesicht abgelöst wurde, war das so gut wie unmöglich. ,,Siloh Preskord mit einer Punktzahl von 7." Eine große graue 7 umfuhr Siloh Gesicht, während Trisha mit einem ,,Wow, Siloh, 7 Punkte! Ich hatte damals nur 4!" versuchte, Siloh mal eine nicht giftige Bemerkung zu entlocken. Doch sie hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können: Siloh wirkte zwar etwas erleichtert, nicht komplett versagt zu haben, verzog aber weiterhin keine Miene. Nun kam ich. Mein Bauch kribbelte aufgeregt und ich kaute nervös an meiner Unterlippe. Hatten die Sponsoren verstanden, was ich gemacht hatte? Würden sie es wertschätzen? Ich konnte kaum hinsehen, als gesamt Panem sah, wie ich die Scheiben einschlug, die Messer umwickelte und sie schließlich auf das Messgerät warf. Ich hatte während des Trainings nicht die Zeit gehabt, auf die Sponsoren zu achten und war nun noch gespannter, obwohl ich nicht ganz sicher war, ob ich die Meinung der Sponsoren und der Leute in diesem Raum wirklich hören wollte. Ich gab mir schließlich doch einen Ruck und blickte in die Gesichter aller Anwesenden. Silohs Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, aber an ihrer Körperhaltung in dem Sessel konnte ich erkennen, dass sie ein wenig neidisch auf den Einfall mit den Beeren war. Stev und Trisha hatten eine Art Pokerface aufgesetzt und äußerten sich erst einmal gar nicht. Ich konnte es gut verstehen. Als ich elf gewesen war, hatte ein Tribut aus Distrikt 8 10 Punkte bekommen und der ganze Distrikt war außer sich vor Freude darüber gewesen, vielleicht endlich mal wieder einen Sieger davon zu tragen. Auch Stev und Trisha hatten in Interviews von sich gegeben, wie sehr sie auf den Jungen hofften. Letztendlich war er am Füllhorn gestorben, weil er, statt wegzurennen, zum Füllhorn gerannt war und sich den Karrieros anschließen wollte. Die fanden das aber nicht so toll und haben ihm noch an Ort und Stelle ein Schwert in den Bauch gerammt. Ich glaubte, seitdem setzten die beiden Sieger nicht mehr auf die Sponsorenbewertung. In ihren Gesichtern konnte ich zwar keine Emotion erkennen, doch dafür umso mehr in den Gesichtern der Kapitoler. Sie schienen doch ein paar mehr Gefühle zu haben, als zwei, denn geschockt konnten sie wohl auch sein. Insgeheim war ich jetzt schon zufrieden. Sich von der Masse abzuheben, war nie schlecht. In meiner Wahrnehmung zeigten sie viel zu viel der Bewertung, anstatt einfach meine Punktzahl zu nennen. Ich kratzte nervös mit dem Zeigefinger an der Innenseite meines Daumens, als meine Bewertung endlich verschwand und von meinem Gesicht abgelöst wurde. Ich hielt die Luft an. Welche Punktzahl? Welche Punktzahl?! ,,Mable Leanbesk mit einer Punktzahl von 0, da sie durch die mutwillige Zerstörung des Glaskastens gegen die Regeln der Sponsorenbewertung gehandelt hat."

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt