Kapitel 29

36 5 0
                                    

Nachdem Siloh mir hoch in den ersten Stock geholfen hatte und es für sie keine Schwierigkeit gewesen war, die Treppe zu erreichen, breiteten wir meine Decke am Boden aus. ,,Zeig mal dein Bein her, der Verband sieht grauenvoll aus!", sagte Siloh besorgt. Sie hatte nicht unrecht: Der Verband war blutig und nässte an den Rändern durch. Vorsichtig löste ich die braunen Klebestreifen von dem Verband und wickelte ihn auf. An einigen Stellen war der Schnitt bereits verkrustet, an anderen trat eine gelbliche Flüssigkeit hervor. ,,Ach du scheiße. Wie ist das passiert?", fragte Siloh, während sie mit den sauberen Stellen meines Verbandes den Eiter weg tupfte. ,,Irgendeiner der Karrieros. Ich glaube eine aus vier.", brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ,,Mit nem Pfeil." ,,Es eitert immerhin. Das heißt doch, dass es heilt, oder nicht?", fragte Siloh hoffnungsvoll. Ich zuckte nur mit den Schultern. ,,Nen Fallschirm wär jetzt ganz nett...", murmelte Siloh vor sich hin, während sie in meinem Rucksack hektisch nach dem Erste-Hilfe-Set kramte. Ich betrachtete wortlos den tiefen Einschnitt in meiner Haut, dessen Ränder trotz der Salbe dick angeschwollen waren und noch röter als vorher schienen. Als Siloh endlich den Koffer fand, verband sie mit flinken Händen den Unterschenkel und befahl mir, ihn auf den Rucksack zu legen, damit das Blut zurück läuft. Eine Weile saßen wir stumm da, während Siloh ihren orangenen Rucksack aufmachte und eine Packung Trockenobst öffnete. ,,Willst du was?", fragte sie und hielt mir die Plastik mit getrockneten Äpfeln und Rosinen hin. Ich griff hinein und warf mir eine der Rosinen in den Mund. Erschöpft lehnte ich den Kopf an die Wand. ,,Ist es okay, wenn ich versuche etwas zu schlafen?" ,,Na klar.", lächelte Siloh, ,,Ich bleib noch bisschen wach. Irgendwer muss dich ja beschützen." Dankbar lächelnd rutschte ich tiefer und verfiel zitternd in einen traumlosen Schlaf.

Ein lauter Kanonenschuss riss mich unsanft aus dem Schlaf. Alarmiert schreckte ich hoch und sah mich hektisch um. Siloh lag zusammengekauert auf der Decke und hatte sich mit dem Leinenschlafsack zugedeckt. Erst dachte ich, ich hätte mir den Schuss eingebildet, doch auf einmal ertönte ein lauter schmerzerfüllter Schrei und ein weiterer Kanonenschuss. Nun schreckte auch Siloh hoch. Als sie mich erblickte, flüsterte sie:,,Hast du das auch gehört? Ich hab mir das nicht gerade eingebildet, oder?" Langsam schüttelte ich den Kopf. ,,Wer meinst du, war das?", fragte sie erneut. Ratlos zuckte ich mit den Schultern. Hoffentlich weder Ginger, noch Dem oder Bug. Ich rappelte mich auf und stolperte zu einem der Fenster. Mit einem leisen Quietschen schob ich es nach oben und ließ die kühle Nachtluft in den kleinen Raum. Aus der Ferne hörte ich weitere Schreie und Kampfgeräusche, während ich mich auf das Fensterbrett stützte. ,,Kannst du was sehen?", flüsterte Siloh und stand ebenfalls auf. ,,Nein, leider nicht wirklich. Wenn du dich nach vorne beugst, kannst du dort hinten, hinter der halben Kapelle ein Feuer erahnen, aber nicht wer dort ist." ,,Bestimmt die Karrieros.", vermutete Siloh, als sie zu mir kam, ,,Niemand anders würde sich sonst trauen, mitten in der Nacht ein Feuer brennen zu lassen." ,,Und was machen wir jetzt?" ,,Nichts. Weiterschlafen." Sie trat vom Fenster weg und legte sich wieder hin. Ein markerschütternder Schrei ertönte, zwei Sekunden, dann die Kanone. Stille. Ich blickte zu Siloh, die mich durch die Dunkelheit hindurch warnend anblickte. ,,Das war nicht Ginger. Das weißt du. Sie wär die letzte, die sich den Karrieros anschließt und sich dann in der Nacht ermorden lässt. Bitte lass uns jetzt schlafen." Sie ließ ihren Kopf auf ihren Rucksack, den sie als Kissen verwendete, sinken und schloss die Augen. Ich tat es ihr gleich, lag jedoch noch einige Stunden wach, weil mich der Gedanke an die kreischende Ginger, wie Lucretius ihr sein Schwert in die Brust rammte, dennoch nicht los ließ.

Ich wachte einige Stunden später mit schmerzenden Gliedern aufgrund des harten Bodens auf, weil die künstliche Sonne an der Kuppel durch das angelaufene Glasfenster über mir direkt in mein Gesicht schien. War es wirklich zehn Stunden her seit die Sonne untergegangen war? Der künstliche Tagesablauf der Arena brachte mein Zeitgefühl total durcheinander. Ich kämpfte mich hoch und richtete mich auf. Siloh war wohl schon etwas länger wach, denn sie kniete auf dem Boden vor mir und rupfte einen Vogel, den sie gefangen hatte. Das Blut des toten Viehs verklebte seine Federn und auch an Silohs Händen haftete jede Menge Vogelblut. ,,Sicher, dass du das essen willst?", fragte ich und zeigte auf das Tier. ,,Hast du nen besseren Vorschlag?" Resignierte schüttelte ich den Kopf, kniete mich hin und half Siloh Federn von Fleisch zu trennen. Nach unserem kleinen Frühstück, das aus kaltem blutigen Vogelfleisch bestand, weshalb ich die zwei Bissen, die ich aß, mehr herunter würgte als schluckte, packten wir unsere Sachen wieder in den Rucksack und kletterten zurück in den Laden. ,,Und wohin jetzt?", fragte ich ratlos, während Siloh sich den Staub von der schwarzen Hose klopfte. ,,Die anderen finden." Zitternd folgte ich Siloh, die den Laden verließ und auf gut Glück nach rechts abbog. Richtig auftreten konnte ich noch nicht, weswegen Siloh immer wieder anhielt, um auf mich zu warten. Die Sonne schien warm auf den spröden Teer vor mich, jedoch konnte ich nicht anders, als am ganzen Körper zu frieren. Als Siloh dies bemerkte, schlug sie vor anzuhalten und fragte, ob sie meinen Rucksack tragen solle. Schnaubend schüttelte ich den Kopf und vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Ich konnte doch meinen Rucksack selber tragen! Als ich meine Hände in die Jacke schob, stießen sie auf zwei kleine runde Kugeln und mehrere kleine. Verwundert nahm ich sie heraus und fand die zwei Äpfel und einige Trauben, die ich in die Arena geschmuggelt hatte bei mir. Ich ließ einen kurzen Freudenschrei los, bevor ich die saftige grüne Traube in meinen Mund wandern ließ. Die Haut ploppte auf und der süße Traubensaft spritze heraus. Noch nie in meinem Leben hatte etwas so gut geschmeckt wie die warme etwas schrumpelige Traube, auf der ich zwei Nächte geschlafen hatte. ,,Siloh!", rief ich und humpelte einige Schritte zu ihr vor. ,,Augen zu!", befahl ich. ,,Nein! Ich mach nicht die Augen zu! Was ist?", fragte sie genervt. ,,Komm schon, ich mach nichts schlimmes!", bettelte ich. Seufzend schloss sie die Augen. ,,Und jetzt?" ,,Mund auf!", befahl ich erneut, zog eine der Trauben hervor und legte sie ihr in den Mund. Vorsichtig begann sie zu kauen und schaute mich misstrauisch an:,,Was ist das?" Lächelnd zog ich die zwei Äpfel, die schon einige braune Stellen aufwiesen und die Trauben hervor. Ungläubig blickte Siloh mich an. ,,Wo hast du die her?" Mysteriös lächelnd zuckte ich mit den Schultern und aß noch eine Traube. Trauben essend zogen wir weiter bis wir an ein riesiges Gebäude kamen, das mehrere Eingänge aufwies und sogar ein zweites ebenfalls riesiges Gebäude angebaut hatte, das aussah, als würden dort tausende Autos Platz haben. Nur - wer besaß so viele Autos? Wir betraten das riesige Hauptgebäude durch ein großes Loch in der Wand und standen in einem kleinen Verkaufsraum mit einer Theke, in dem leere Regale und umgeworfene Kleiderständer am Boden lagen und auf ein verlassenes Bekleidungsgeschäft hinwiesen. Siloh half mir über ein Regal zu klettern und schob schließlich mit einem Quietschen das rostige Gitter hoch, welches den Weg in eine riesige Halle versperrte. Über uns war ursprünglich einmal eine große Glaskuppel gewesen, doch nun erinnerte nur noch ein halbes Metallgitter, das sich einsam gen Himmel streckte, an die einstige Pracht der Kuppel. Jede Menge Metall- und Glassplitter fanden sich am Boden und ich war froh um meine festen Schuhe. Ich musste husten, als ich die staubige Luft in meinen Lungen spürte, doch Siloh blickte mich harsch an und befahl mir still zu sein. Wir blickten uns an, dann schlichen wir über den beigen verdreckten Fliesenboden vorwärts. Möglichst leise stiegen wir eine metallene Treppe hoch, liefen einen langen Gang entlang, an dessen Seiten sich ein Geschäft nach dem anderen befand und wandten uns schließlich nach links zu einem Laden, dessen herabgefallenes Schild die Tür soweit verdeckte, dass man hindurch krabbeln musste. Leise erkannten wir Gesprächsfetzen aus dem Laden nach dem Verhallen unserer Schritte. ,,-noch Brot? Du musst was essen, sonst kratzt du ab." Eine leise schwache Stimme flüsterte etwas zurück. ,,Du reißt dich jetzt verdammt nochmal zusammen und isst dieses verfickte Brot, weil es viele beschissene Wege gibt auf die du dein beschissenes Leben verlieren kannst, aber verhungern ist keiner! Du lässt mich hier verdammt nochmal nicht allein!" Siloh drehte sich lächelnd zu mir und krabbelte unter dem Schild durch. Ich tat es ihr gleich, wobei ich mein Bein ein wenig nachzog. Wir standen in einem großen Verkaufsraum mit mehreren Räumen, in denen leere Regale und einige zerbrochene Schaufensterpuppen herumstanden und -lagen. ,,Dem! Bug!", rief Siloh laut durch die Räume. ,,Wer ist da?", fragte Bugs Stimme kraftlos. ,,Siloh und May.", antwortete Dem überrascht und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. ,,Was für ein verdammtes Wunder, das ihr hier seid."

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt