Kapitel 22

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,,Was war das denn bitte?", schrie Stev mich an, während ich mit verschränkten Armen am Esstisch saß. Er wanderte an der Längsseite des Tisches auf und ab und verbarg seine Hände abwechselnd in Verzweiflung vor seinem Gesicht oder stemmte sie in die Hüften, während er plärrte. ,,Wie soll ich dir dein verschissenes kleines Leben retten, wenn du dem Kapitol öffentlich den Mittelfinger zeigst?! Wenn ich meinen Job machen soll, dann mach du gefälligst auch deinen und spiel kleines unschuldiges Mädchen!" ,,Ich bin aber keinen kleines unschuldiges Mädchen!", schrie ich zurück, ,,Vielleicht war ich es mal, aber durch das Kapitol und diese ganze Scheiße hier bin ich definitiv keins mehr!" ,,Du wirst sterben!", brüllte er und stemmte seine Arme auf die Tischkante. ,,Das werd ich so oder so. Seit dem Tag, an dem Liah meinen Namen ausgesprochen hat, war ich quasi tot! Klar, ich will kämpfen, aber dann kam das Kapitol an und hat mich dafür hingehängt, dass ich kämpfen wollte! Ich hab keinen Bock mehr!", erklärte ich lautstark und stand auf. ,,Beschwer dich nicht bei mir, wenn du tot im Graben liegst! Bei Cimon letztes Jahr war das genauso und davor bei Twyla und davor bei Thread! Ab einem gewissen Punkt meinen alle, jetzt rebellieren zu müssen und sterben dann doch irgendwann!" Ich wollte schnippisch darauf antworten, doch in dem Moment betrat Siloh mit schweren Schritten das Esszimmer. Sie blickte stumm vor sich hin und wartete stillschweigend, bis wir vollzählig waren. Während des Essens herrschte bedrückte Stille, denn alle wussten, dass dies das letzte Abendessen in dieser Konstellation war. Beim nächsten mal würde nur noch Siloh am Leben sein. Oder keiner von uns beiden. Ab und zu warf Liah mir einen Blick zu, der wohl enttäuscht sein sollte, doch unter ihrem Make-Up wirkte er nur wütend und hochnäsig. Ich verließ bereits vor dem Dessert das Esszimmer, denn ich hatte trotz der appetitlich angerichteten Speisen keinen Hunger. Als ich meinen Stuhl zurück schob, durchbrach Liah die Stille:,,Mable, gehst du schon? Warum hast du denn keinen Hunger?" Ich hielt in meiner Bewegung inne, blickte ihr direkt in ihre gefärbten Augen und antwortete seelenruhig:,,Weil ich morgen sterbe."

Mit trübem Blick starrte ich an die weiße Decke und malte mir den morgigen Tag aus. Wie würde ich sterben? Was tat am wenigsten weh? Tat es überhaupt weh? Oder war es nur der seelische Schmerz, jetzt nicht mehr hier zu sein? Ich wollte nicht sterben, doch ich hatte es vermasselt, morgen würde ich sterben und das mit einer ziemlich sicheren Wahrscheinlichkeit. Und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Das Kapitol hasste mich und seine Feinde brachte es zuallererst um. Hatte man mein Interview überhaupt gesendet? Wussten die Distrikte was geschehen war? Wie hatten sie reagiert? Auf einmal war es mir unfassbar wichtig, zu wissen, ob meine Eltern und Freunde von heute wussten und ob sie reagiert hatten. Ich schaltete den Fernseher über der Kommode ein und zappte wie gebannt durch die drei Programme, die das Kapitol empfing, ob auf irgendeinem über mich gesprochen wurde. Ich blieb schließlich an dem letzten drei -einem öden Nachrichtensender mit dem unfassbar einfallsreichen Namen Panem aktuell- hängen, auf dem ein kurzer Bericht über Krawalle in den Distrikten drei, acht und zehn gesendet wurde. Drei, acht und zehn. Das waren unsere Distrikte. Die Wahrscheinlichkeit, das es etwas mit uns zu tun hatte, war gar nicht so klein. Ich wartete gespannt ab, ob sie noch etwas über die Gründe der Auseinandersetzungen sagten, doch leider bemerkte die Frauenstimme nach fünf kurzen verwackelten Videoclips von Bewohnern, brennenden Häusern und Friedenswächtern, die Ursache des Wutes der Bewohner sei noch ungeklärt, man sei sich aber sicher, die Aufstände können bald friedlich gelöst werden. Es wurde ein weiterer Videoclip gezeigt, auf dem das Rathaus aus Distrikt 8 eindeutig erkennbar mit seinem eierschalenfarbenen Anstrich abgebildet war, auf welchem jedoch mit roter Farbe etwas geschrieben stand. Schnell griff ich nach der Fernbedienung, um das Video zu pausieren und das geschriebene zu entziffern. Ich brauchte durch den Verlauf der blutroten Farbe etwas, doch nach einigen Sekunden konnte ich klar und deutlich das Wort ,,Fairness" erkennen. Fairness. Es bezog sich auf mich und mein Interview. Ich hatte die Distrikte in meinem Rücken. Die Distrikte mochten mich. Irgendwie. ,,Siloh!", rief ich mit einem unkontrollierbaren Hämmern in der Brust. ,,SILOH!", schrie ich nun noch lauter und sprang wie elektrisiert vom Boden auf und in Siloh Zimmer, die mir bereits auf halbem Wege entgegen kam. ,,May, was ist? Was ist passiert?", rief sie erschrocken. ,,Die Distrikte!", keuchte ich völlig außer Atem von der Aufregung. ,,Sie leisten Widerstand.... Wegen uns!" Siloh hielt mich an den Schultern fest und blickte mich nur ratlos an, während ich mich auf meine Knie stützte. ,,Geh in mein Zimmer.... Da siehst du's.... Unser Rathaus... Schau's dir einfach an!" Siloh ließ von mir ab und betrat mein Zimmer, in dem das Bild des Rathauses immer noch pausiert war, obwohl der Bericht wahrscheinlich schon zum übernächsten Thema gelangt war. ,,Fairness?", fragte Siloh sichtlich verwundert und schüttelte dann den Kopf, ,,Was hat das mit uns zu tun?" ,,Alles!", antwortete ich jetzt wieder normal und raufte mir die ungewohnt kurzen Haare. ,,Hast du mein Interview nicht gesehen? Plinax hat mich gefragt, ob ich denn nicht unfair gehandelt habe, als ich die Scheibe eingeschlagen hab." ,,Und?", fragte Siloh immer noch ratlos. ,,Ich hab einen langen Vortrag über Fairness und die Hungerspiele gehalten und dann wurde ich von der Bühne gezerrt, aber dieses Fairness da bezieht sich ganz bestimmt auf mich. Alles andere macht keinen Sinn!" ,,Wenn du meinst. Ist mir relativ wurscht. Ich sterbe sowieso im Laufe der nächsten Woche. Egal, ob die sich damit auf uns beziehen oder nicht." Warum verstand sie denn nicht? ,,Die Distrikte mögen uns! Das Kapitol bringt uns nicht um, wenn die Distrikte uns mögen! Die Hungerspiele sind immerhin noch eine Fernsehshow und der Beliebteste gewinnt. Wenn die uns töten werden die Krawalle noch größer!" ,,Komm auf den Punkt, Mädel! Ich möchte meine letzten Stunden nicht mit deinem Geschwafel verbringen!" Ich griff Siloh rechts und links an den Schultern und blickte ihr fest in die Augen:,,Das Kapitol bringt uns nicht um." Langsam lichtete sich die Ratlosigkeit in ihrem Gesicht und wich ungläubiger Freude. ,,Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe, aber wenn ich dich richtig verstanden habe, heißt das, dass uns das Kapitol tot sehen will, uns aber nicht töten kann, weil die Distrikte uns mögen und sie so tun müssen, als würde es uns auch mögen?" ,,Ja, du hast es erfasst. Vorerst sterben wir nicht!", lachte ich erleichtert und auch Siloh lachte weniger angespannt. ,,May, erst dachte ich, deine Aktionen wären dämlich, aber irgendwie bist du doch ganz klug." ,,Danke. Sehr freundlich!", antwortete ich die Augen verdrehend, ,,Ich geh jetzt ins Bett. Auch wenn ich morgen noch nicht sterbe, sollte ich nicht allzu müde sein. Das Kapitol will uns zwar erst nicht töten, aber das wissen Bulla, das Taubenmädchen und Co. bestimmt nicht." ,,Ja, du hast ja recht.", lächelte Siloh müde und öffnete mit einem leisen Quietschen die schwarze Tür. Sie wollte sie gerade wieder schließen, da hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. ,,May? Wie finden wir uns in der Arena?" Ich biss mir auf die Unterlippe. Wir waren aus demselben Distrikt, also würden unsere Plattformen wohl kaum beieinander liegen. ,,Pass auf. Wir rennen beide vom Füllhorn weg, schnappen uns, was wir kriegen können und halten erst mal den Ball flach. Am zweiten Tag um genau zwölf zündet einer von uns ein Feuer und wir treffen uns am dritten Tag zur selben Zeit auf der gegenüberliegenden Seite der Arena. Da ist das Feuer schon wieder fast vergessen und die Karrieros suchen nicht mehr nach dem Feuerleger. Ist das ein guter Plan?" ,,Ja, warum nicht?", bejahte Siloh achselzuckend und verließ den Raum endgültig. Ich duschte ein letztes mal für eine lange Zeit mit richtiger nach Rosen duftender Seife, zog mir das weiße Baumwollnachthemd an und kuschelte mich in die dicke Daunendecke, während ich durch das Fenster auf den Platz unter dem Hochhaus blickte, auf dem man durch die starke Beleuchtung immer noch lachende und tratschende Kapitoler erkennen konnte, die weiterhin ausgelassen unseren baldigen Tod feierten.

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt