Kapitel 20

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Mit großen Augen blickte das Mädchen aus Distrikt 12 Siloh stumm an. ,,Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?", fauchte Siloh nicht minder giftig, woraufhin sich das Mädchen ihrer Starrheit bewusst wurde und sich schnell umdrehte. Siloh drehte sich wieder zu mir und wartete wohl darauf, dass ich irgendetwas zu ihrem Monolog sagte, doch ich wusste nicht, was. Mir hatte es, wie dem Mädchen vor uns, die Sprache verschlagen. Ich war nur unheimlich froh gewesen, nicht in der Haut des Mädchens zu stecken. Ich bewunderte Siloh für ihre Art, wie sie sich sofort eine schlagfertige Antwort aus dem Ärmel geschüttelt hatte. ,,Hallo?! Erde an May? Alles klar bei dir?", fragte Siloh, während sie mit ihrer Hand vor meinem Gesicht wedelte. Ich schlug ihr ihre Hand selber ins Gesicht und lachte:,,Klar, wieso nicht?!" Sie zuckte mit den Schultern. ,,Keine Ahnung. Du hast so geguckt. Dachte du wärst vielleicht aufgeregt. Wegen des Interviews und so." ,,Quatsch, ich bin nicht aufgeregt!", winkte ich ab. Siloh zuckte mit den Schultern und begann die Messer auf die Zielscheibe zu werfen.

Sieben Stunden später wusste ich: Ich war verdammt aufgeregt! Hektisch lief ich in meinem Zimmer auf und ab, blickte in den Spiegel über der Kommode, richtete irgendetwas an meinen feuchten Haaren, lief auf die andere Seite des Raumes, versuchte mich zu beruhigen, dass alles gut würde, und lief dann wieder zurück zum Spiegel. Ich musste hier oben warten, bis mein Vorbereitungsteam soweit war, was sich zur absoluten Qual entwickelt hatte. Cilia hatte mir angeordnet, mich schon hier oben zu duschen, meine Haare allerdings noch nicht zu föhnen oder zu bürsten, da sie selber das machen wollte. So saß ich jetzt in meinem Zimmer mit beinahe noch triefenden wirren Haaren, die mir über das gesamte Gesicht hingen, auf meinem Zimmer fest. Die Kapitolerin hatte gemeint, dass sie mich in zehn Minuten holen würde, doch laut der Digitaluhr waren bereits zwölf Minuten vergangen. Nach ewig langen vierzehnenhalb Minuten, klopfte Cilia endlich an meiner Tür und fuhr mit mir in den Keller des Hochhauses. Ich war froh, mit Cilia gemeinsam unterwegs zu sein, denn alleine hätte ich den Raum, in dem Fia und Neemo schon auf uns warteten, niemals gefunden. Dieses mal ging die Vorbereitung etwas schneller als bei der Parade. Mein Vorbereitungsteam zupfte mir lediglich die Augenbrauen und lackierte mir dann die Nägel. Nachdem Neemo mir meine schulterlangen Haare leicht gewellt, seitlich eingeflochten und sie mir auf eine mir diffuse Art auf meinem Kopf festgesteckt hatte, wurde ich nur mit einem dünnen Hemd bekleidet in einen Nebenraum geschickt, wo ich auf Fillodo warten sollte. Ich saß fröstelnd auf einer kalten Liege, deren harter Rand sich in meinen nackten Oberschenkel bohrte und nicht gerade zu meinem Wohlbefinden beitrug. Die mir gegenüberliegende weiße Wand war mit einigen dunklen Flecken versehen und, obwohl ich es nicht wollte, fragte ich mich unwillkürlich, woher diese stammten. Einige warum nur unförmige hellbraune Flecken, die wohl durch das Anstoßen oder Anlehnen an diesen Wänden entstanden sein mussten. Doch andere waren länglich und zogen sich von etwa Kopfhöhe bis auf die Höhe meiner Knie, als wären sie heruntergetropft. Woher kamen sie? Was war diese rotbraune Flüssigkeit? Doch nicht etwa... Blut? Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass es sich bei der getrockneten Flüssigkeit, die nur unsauber übermalt worden war, um Blut handelte. Ich schluckte und umfasste automatisch mein Handgelenk mit dem Armband. Cilia hatte es mir vorhin abnehmen wollen, da es angeblich nicht zu meinem Kleid passen würde, doch ich hatte mich gesträubt. Das Kleid war doch für mich designt worden und nicht ich für das Kleid. Ich betrachtete weiter die Blutspur von meiner Liege aus. Woher kam sie bloß? Hatte ein Tribut versucht, sich umzubringen? Das war nicht so abwegig. Bevor man in der Arena den ganze psychischen Mist, den das Kapitol so liebt, durchmacht, kann man es auch schon vorher beenden. Außerdem stände das Kapitol mit einem Tribut weniger ganz schön dumm da. Auch ich hätte nun die Möglichkeit, es hier und jetzt zu beenden. Dieses Trauerspiel, genannt mein erbärmliches und viel zu kurzes Leben. Die Kante der Liege war scharf. Und an der linken Wandseite stand ein Spiegel. Den einzuschlagen wäre bestimmt nicht sonderlich schwer. Und Scherben eines Spiegels waren beinahe rasiermesserartig. Doch für mich war Selbstmord keine Option. Ich würde kämpfen bis zum Schluss. Nach allem, was passiert war: Hoffnung bestand immer. Ich starrte weiter an die Wand, als sich endlich die Tür öffnete und Fillodo mit zwei Avoxen und einem Kleiderständer hereinkam. Erleichtert, nicht mehr warten zu müssen, sprang ich von der Liege auf und wollte den beiden Mädchen helfen, die Plastikfolie von meinem Kleid abzuziehen, doch sie wiesen mich ab und bedeuten mir, mich vor sie zu stellen, damit sie mir das Kleid anziehen konnten. Es war nicht über die Maßen hübsch und schon gar nicht wunderschön, aber es war tragbar. Es war gerade geschnitten wie ein zu langes T-Shirt und hatte an den Ärmeln und am Saum weiße Spitze, die hervorblitzte, wenn ich mich bewegte. Dazu reichte er mir dunkelrote leicht hohe Schuhe, bei denen er sich etwas mit der Größe verschätzt hatte und die deshalb leicht drückten. Außerdem schlang er mir ein Band in derselben Farbe wie die Schuhe um den Dutt und steckte es mit Nadeln fest. Ich erwartete, jetzt fertig zu sein, doch der Avox hielt mich auf und sprühte mir noch Unmengen an Haarspray auf den Kopf. Der Alkohol landete auch auf meinem Gesicht und ich konnte es nur knapp vermeiden, dass ich hustete. Was ein Trara nur wegen meinen blöden Haaren, die für knapp zwei Minuten gut aussehen mussten. ,,Du musst das Kleid und die Schuhe später wieder zurück bringen, ja? Ich haben das nicht nur für dich geschnitten!", schärfte mir Fillodo ein und ich nickte ein wenig verwundert. Was wollte der später denn noch mit diesem ollen Ding?! Er begleitete mich aus dem Raum, über einige Gänge, durch Türen hindurch auf weitere Gänge. Letztendlich führte er mich durch eine schwere Eisentür durch, auf der groß ,,Bühneneingang" stand. Sie wurden rechts und links von Friedenswächtern bewacht, die groß mit Gewehren auf uns zielten, als wir um die Ecke gebogen kamen. Hinter der Tür liefen viele Leute mit Headsets hektisch umher und schoben mich zu den anderen Tributen, die in einer langen Reihe vor der Treppe zur Bühne warteten. Ich stellte mich zwischen Siloh und den asiatisch aussehenden Jungen aus Distrikt 9 und flüsterte:,,Hi!" ,,Hey!", murmelte Siloh zurück, während auf der Bühne Plinax Praia ausgelassen lachte und das Publikum begrüßte. ,,Aufgeregt?", fragte ich Siloh, die tatsächlich ein wenig angespannt wirkte. ,,Geht so. Du?", antwortete sie und blickte spöttisch auf das Mädchen aus Distrikt 4, das gerade zu uns geführt wurde und ein Kleid mit einem wahnsinnig tiefen Ausschnitt trug. Einer der Riesen aus Distrikt 1 gaffte ihr durchgehend ins Dekolletee, doch anstatt irgendetwas dagegen zu tun, lächelte sie ihm nur verschwörerisch zu und hob ihr meerblaues Kleid, um sich in die Reihe hinter Bug zu stellen. ,,Du siehst übrigens auch ganz nett aus!", sagte Siloh plötzlich, was mich von dem Idioten vor uns ablenkte. ,,Pff, naja.", gab ich zurück, ,,Das Kleid ist eher ein übergroßes T-Shirt und die Schuhe sind ne Nummer zu klein. Ich glaub ich werd heute Abend mörderische Blasen haben!" ,,Mörderische Blasen - eine Autobiografie von Mable Winnifred Leanbesk!", lachte Siloh leise, wofür ich ihr einen Stoß gegen den in blutroten Satinstoff gehüllten Oberarm gab. Die letzten drei Tribute erschienen, reihten sich mit ein, wir erkannten Plinax Praia auf dem Bildschirm seine letzten Scherze machen und von da an ging alles sehr schnell. Ein Tribut nach dem anderen wurde von einer Frau mit Headset und Klemmbrett auf die Bühne befördert, erzählte etwa drei Minuten von sich und seiner Lebensgeschichte, erhaschte ein, zwei Lacher des Publikums und einen halbherzigen Applaus am Ende und schon wurde der nächste in das grelle Licht geschickt. Ich atmete einmal tief ein und aus. Ich war selbstbewusst, ich konnte von mir erzählen, ich konnte reden, ich würde das schaffen. Noch hatte ich die Möglichkeit, alle von mir zu überzeugen, noch konnte ich alles ändern. Das Mädchen mit dem Riesenausschnitt lief von der Bühne, die Taube trat auf, noch sieben Tribute. Ich ertappte mich dabei, wie ich herunter zählte und letztendlich bei eins ankam. ,,Toi, toi, toi!", flüsterte ich Siloh noch zu, bevor die Frau sie an ihrem Kleid, das optisch kaum zu ihr passte, wegzog und auf die Bühne schickte. Siloh meisterte das Interview erstaunlich souverän, bekam ebenfalls den Applaus und dann war ich an der Reihe. ,,Noch kann ich alles ändern."

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt