Kapitel 10

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Am Abend nach dem Training fiel ich todmüde ins Bett. Ich hatte so ziemlich jede Station -mal mehr, mal weniger erfolgreich- ausprobiert und schnell gemerkt, dass mir weder Schwertkampf, Bogenschießen oder Speerwerfen gut lag. Von den Waffen war ich mit dem Messer am geschicktesten und konnte es auch schon relativ gut werfen. Zwar lange nicht so gut wie die Karrieros, die ihr Leben lang auf die Spiele trainierten, aber ich hatte das Gefühl, meine geringe Chance, in der Arena auch nur die ersten paar Tage zu überleben, ein wenig ausgebaut zu haben. Obwohl ich lieber ins Bett gegangen und einfach geschlafen hätte, beschloss ich, dass es sinnvoller war, die Zeit bis zum Abendessen dazu zu nutzen, mich auf das Interview in ein paar Tagen vorzubereiten und die Interviews mit dem Spielemacher anzusehen. Ich wechselte meine Trainingskleidung zu einer normalen Hose und einer lockeren Bluse und verließ meinen Bereich Richtung Fernsehprojektor. Auf dem Sofa saß Siloh -die Beine ausgestreckt- und sah sich ein Interview zwischen Plinius Eisenberg, dem Spielemacher, der schon seit ein paar Jahren der Spielemacher war, und dem Zeremonienmeister Plinax Praia an. Als ich sie sah, musste ich unwillkürlich lächeln. Siloh hatte mit ihrem Leben noch genauso wenig abgeschlossen wie ich. ,,Hey!", sagte ich und ließ mich in den Sessel neben ihr plumpsen. ,,Hey!", antwortete sie und drehte das Interview etwas leiser, ,,Willst dich auch vorbereiten, oder?" Ich nickte und zog die Beine an, ,,Ich frage mich die ganze Zeit, welche Arena sie wohl ausgewählt haben." ,,Welche könnten denn drankommen?", fragte mich Siloh interessiert. ,,Also Savanne können wir ausschließen, das gab es schon letztes Jahr." Ich biss mir auf die Lippe, als ich an Twine und Angora dachte, die im Jahr davor in die Hungerspiele mussten. Ich hatte keinen der beiden persönlich gekannt, doch Angora war mir ein paar mal auf dem Markt begegnet und immer nett vorgekommen. Sie hatte das Gemetzel am Anfang nicht überlebt, weil sie, als der Kanonenschuss ertönte, sich einen der kleinen Beutel, die ganz außen liegen und mit kaum etwas befüllt sind, nehmen und in die Bäume verschwinden wollte, von einem anderen Tribut umgeworfen wurde und sie sich dabei am Fuß verletzt hatte. Als sie dann davon gehumpelt war, war sie für die Karrieros leichte Beute gewesen. Twine dagegen war sogar fünfter geworden und dann von einem Karriero im Schlaf erstochen worden. Er hatte nichts getan und einfach nur friedlich dagelegen. Dann war Blaze Dawnwood aus Distrikt 1 gekommen, hatte ihn entdeckt, war auf den Baum geklettert, auf dem er gelegen hatte, hatte das Messer gezückt und mehrmals zugestochen. Seine Kleidung hatte sich blutrot gefärbt, während der Junge aus Distrikt 1 seine Sachen durchwühlt und Lebensmittel gesucht hatte. Wir hatten uns alles mitansehen müssen und selbst danach wurden die Tode immer und immer wieder wiederholt, damit auch der letzte Hinterländler die Grausamkeit der Hungerspiele mitbekam. ,,Was kommt noch in Frage?", fragte mich Siloh, doch ehe ich ihr antworten konnte, sagte sie:,,Warte! Ich hole Papier und Stifte!", und verschwand aus dem Raum. Ich stellte den Fernseher lauter. ,,Wissen Sie, ich mache das jetzt schon seit fünf Jahren und mir fällt auf, dass die Hungerspiele unter meiner Führung immer eine etwas unerwartete Landschaft haben und immer für eine Überraschung gut sind.", antwortete gerade Plinius Eisenberg. Plinax Praia nickte unablässig. ,,Da hätten wir zum Beispiel Ihr erstes Jahr", Bilder von vor vier Jahren wurden eingeblendet, ,,Sie haben eine Graslandschaft, die jeden Tag um zwölf Uhr mit 50 Zentimetern Salzwasser überflutet wurde, ausgesucht. Das kam für die meisten von uns sehr unerwartet." Plinius lachte. ,,Ja. Das war in der Tat ein tolles Jahr." ,,Und haben Sie sich auch schon überlegt, in welche Arena Sie die Tribute dieses Jahr schicken werden?" Siloh betrat den Raum erneut mit Papier und Stiften, von denen ich keine Ahnung hatte, wo sie diese herbekommen hatte. ,,PSCHT!", fuhr ich sie an und zeigte auf den Fernseher. Sie nickte, hüpfte auf Zehenspitzen zu mir und legte Papier und Stifte auf den Tisch vor mir. ,,Ja, natürlich, ich habe mir für dieses Jahr wieder etwas ganz besonderes überlegt und ohne zu viel zu verraten, würde ich sagen, dass die Arena dieses Jahr einem Jubeljubiläum würdig ist." ,,Und was soll ich daraus jetzt schließen?!", fuhr Siloh den Fernseher an. Ich drehte mich zu ihr und blickte sie wütend an, während Plinius Eisenberg weiterredete:,, Allerdings ist dieses Jahr nicht einmal die Arena das besondere, sondern das, was die Tribute dort erwarten wird. Ich darf natürlich nicht all zu viel sagen, aber es wird doch etwas werden, worauf keiner von uns gefasst sein wird. Es wird also spannend!" ,,Vielen Dank!", sagte der Zeremonienmeister und stand auf, um Plinius Eisenberg die Hand zu schütteln. Dieser stand ebenfalls auf, verbeugte sich vor dem applaudierenden und jubelnden Publikum, schüttelte Plinax Praia die Hand und verschwand hinter den Kulissen. Plinax Praia lachte, machte ein paar Gags und kündigte dann seinen nächsten Gast an:,,Und nun meine Damen und Herren habe ich die Ehre, einen besonderen Menschen hier zu Gast zu haben. Bitte begrüßen Sie mit mir Blaze Dawnwood, den Sieger der 124. Hungerspiele!" Blaze Dawnwood betrat die Bühne, das Publikum jubelte, ich verkrampfte mich. Er war es gewesen, der Twine umgebracht hatte und auch er war es gewesen, der die übrigen Karrieros aus heiterem Himmel getötet hatte und somit Sieger wurde. Alle in Distrikt 8 hassten ihn. Das Kapitol liebte ihn. So wie alle Sieger, die in das Schema ,,Sieger" passten. Aus Distrikt 1,2 oder 4, eben Karriero, selbstverliebt und gut aussehend. ,,May, können wir dann jetzt anfangen?", fragte mich Siloh vorwurfsvoll. ,,Klar!", antwortete ich, weil ich wusste, dass man diesem Mädchen eh nicht widersprechen konnte. Ich stellte den Fernseher leiser und rutschte zu Siloh, die die Blätter schon auf dem Couchtisch ausgebreitet hatte. Während Blaze und Plinax über die diesjährigen Tribute plauderten, schrieb Siloh sämtliche Landschaften auf, die ihr einfielen. Dschungel, Sandwüste, Gebirge, Wald, weite Wiesen und Felder, Hügel, Klippen, Eiswüste, Geröllwüste. Doch einiges strich sie sofort wieder durch, da es erst in den letzten paar Jahren diese Landschaften gegeben hatte oder es ihr zu unwahrscheinlich vorkam. Wie die Eiswüste, die es vor beinahe 100 Jahren einmal gegeben hatte. Doch die Hälfte der Tribute erfroren waren, was für das Kapitol und seine Bewohner einfach zu langweilig gewesen war, weswegen sie das wohl nicht mehr machten. Doch auch als schon viele Punkte durchgestrichen waren, hatten wir immer noch jede Menge Landschaften, die infrage kamen, übrig und wir waren uns sicher, dass es noch einen Haufen wahnwitziger Ideen gab, die das Kapitol haben könnte. So gaben wir schließlich auf und ich wollte wieder in mein Zimmer gehen, doch Siloh fragte mich:,,Was willst du eigentlich den Sponsoren vorführen?" Ich setzte mich wieder auf den Rand des Sofas, aber ich konnte ihr nicht antworten. Also zuckte ich bloß mit den Schultern. Sie nickte. ,,Ja, so sieht es wohl aus. Die Karrieros haben massenhaft Talente und Dinge, die sie vorführen könnten. Bogenschießen, Speerwerfen, Schwertkampf, Messerwerfen, Umgang mit der Axt, was weiß ich. Und dann stehen da wir. Ich mein, klar kann ich nen Messer werfen, aber es so zu werfen, dass ich damit ein sich bewegendes Objekt, einen Menschen, der auch nur ums Überleben kämpft, töten kann, ist schon ne ganz andere Nummer. Ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt töten kann. Oder töten will. Das Kapitol zwingt uns, uns gegenseitig abzuschlachten und der, der die meisten abschlachten kann und am skrupellosesten ist, gewinnt. Das ist doch krank. Warum müssen wir da ausgerechnet hineingeraten?! Das Leben ist scheiße." 

Ja, das Leben war scheiße. Aber unseres war ganz besonders scheiße. 

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt