Kapitel 25

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Gemeinsam rannten wir durch die zerstörte Stadt, bogen mal rechts und mal links ab und verschnauften nur kurz, wenn einer hinfiel oder keine Luft mehr bekam. Nach ein paar Minuten war ich in einen gleichmäßigen Trab verfallen, den ich bis jetzt gehalten hatte. Gerade lehnte ich nach Luft ringend an einer bröckeligen Mauer, während der Junge meine Decke faltete und in seinen Beutel schob. ,,Alles okay? Können wir weiter?", fragte er mit einem besorgten Blick in die Richtung, in der das Füllhorn lag. Ich nickte langsam. Meine Lungen brannten und mein Mund schmeckte nach Blut. Unsere Schritte auf dem rissigen Teer hallten durch sämtliche Straßen, durch die wir liefen, wider. Ich hoffte nur, dass keine mordlustigen Tribute in unserer Nähe waren. Die Karrieros befanden sich noch am Füllhorn, noch hatte die Kanone nicht geknallt, obwohl es langsam dämmrig wurde. Wir bogen gerade in eine dunkle Gasse, von der mehrere Eingänge in halbwegs stabil aussehende Hochhäuser abzweigten ein, als der erste Kanonenschuss ertönte. Wie erstarrt blieben wir stehen, um ihnen zu lauschen. ,,SCH!", fuhr der Junge mich an, obwohl nichts gesagt hatte. Leise zählte ich mit. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Dann Stille. Nur zehn Tote. Und ich wäre beinahe unter ihnen gewesen. Zehn waren nicht viel. Die Kommentatoren der Spiele würden den Auftakt wohl als schwach bezeichnen, normalerweise starb schon etwa die Hälfte allein beim Blutbad am Füllhorn. ,,Was stehst du hier so angewurzelt? Die Karrieros sind jetzt weg vom Füllhorn, wir brauchen was zum Übernachten.", zischte der Junge erneut und blickte hoch in den gräulichen Himmel, der eigentlich nur die Kuppel der Arena war, ,,Am besten was da oben... Lass uns mal in die Häuser reinschauen!" Er betrat ein schon sehr eingefallenes Haus ohne Tür und lief die Treppenstufen in den ersten Stock hoch. Zögerlich folgte ich ihm. Keines dieser Gebäude schien sonderlich sicher, und in dem staubigen Fußboden hinterließen wir mit unseren Stiefel verdächtigte Fußspuren. Als ich dem Jungen, der bereits am Fuße der Treppe in den dritten Stock stand, meine Zweifel mitteilte, lachte dieser nur und meinte:,,So klug sind die Karrieros nicht!" Er übersprang einige heruntergefallenen Stufen und lief den Gang entlang weiter nach oben. Wo wollte er hin? Ich seufzte tief und sprang ebenfalls über die Lücke zwischen den Stufen. Seine Schritte stoppten und auf einmal war es totenstill. Gedämpft rief ich das hölzerne Treppenhaus hinauf:,,Hey! Wo bist du?" Ich bekam keine Antwort. War etwas eingestürzt und hatte den Jungen unter sich begraben? Diese drückende Stille machte mir Sorgen. Ich sprintete die Treppe hoch, nahm zwei Stufen auf einmal, in der Hoffnung, ihn am Treppenende zu finden. Ich hastete die Stockwerke sieben und acht hoch und traf am Ende der Treppe anstatt auf den neunten Stock, auf einen Raum mit nur noch einer Wand und Resten der anderen drei Wände auf dem Boden. Putz bröckelte von einer Steinplatte, als ich über sie lief, und rieselte durch die minimalen Löcher im Boden in die Stockwerke unter mir. Nicht weit von mir entfernt saß der Junge am Rand des Dachs und blickte über die grauen Dächer der zerstörten Stadt, während er seine Beine über den bröckelnden Rand baumeln ließ. Ich stellte mich hinter ihn, darauf bedacht, der bedrohlichen Kante bloß nicht zu nahe zu kommen. ,,Wir sollten weiter. Es ist nicht so klug, hier oben rumzusitzen, das ist ziemlich auffällig!", meinte ich, der Junge beachtete mich jedoch gar nicht, sondern starrte nur weiter vor sich hin. ,,Hey ich meins Ernst, ich möchte ehrlich gesagt nicht..." ,,Das ist doch alles Mist!", unterbrach er mich, ,,Ich weiß genau, dass ich hier sterben werde. Wie alle anderen auch." ,,Komm, das weißt du nicht, jetzt geh erstmal von dieser verdammten Kante weg.", fauchte ich langsam panisch. Warum wirkte er auf einmal so komisch? ,,Und dann? Dann sterbe ich morgen.", antwortete er monoton. Ich näherte mich langsam der Kante und blickte vorsichtig nach unten. Es waren etwa dreißig Meter, die mich zum Schaudern brachten. Ich packte ihn an der Jacke und zog ihn in Richtung der Treppe. ,,Bitte lass uns hier weg. Die Karrieros..." ,,Die Karrieros! Ich scheiß auf die Karrieros. Die Karrieros sind nicht der Feind.", lachte er bitter und schüttelte mich mühelos von seinem Ärmel. Langsam verlor ich die Geduld. ,,Ja, vielleicht stirbst du, aber ist es das Leben nicht wert, darum zu kämpfen, anstatt sich einfach mühelos seinem Schicksal zu ergeben? Wir alle Tribute, die gezogen wurden, sind seit dem Moment dem Tod geweiht, als die Betreuer unsere Namen ausgesprochen haben. Aber wir verdrängen das. So ist es nunmal. Natürlich sterbe ich hier, keine Frage, aber ich will nicht mein eigener Mörder sein." ,,Du stirbst hier nicht.", erwiderte er. Ich blickte ihn nur ratlos an. ,,Natürlich sterbe ich hier. Ich weiß das.", stammelte ich. Von meiner Vermutung der Rebellion der Distrikte und dem Kapitol, das mich hoffentlich nicht umbringen würde, ließ ich ihn nichts wissen. Oder hatte er selber klug kombiniert? Stumm starrte der Junge vor sich hin. ,,Komm.", flüsterte er schließlich und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und zog ihn hoch. Er klopfte sich den grauen Staub von der dreckigen Hose und gemeinsam liefen wir die morsche Treppe hinunter in den sechsten Stock. Wir quetschten uns an einer Tür, die in rostigen Angeln hing, hindurch in ein großes Zimmer mit beinahe vier intakten Wänden. Eine war leicht zerfallen und bröselte vor sich hin, gab von der Straße aus jedoch keine Sicht auf uns frei. Ich setzte den pinken Rucksack ab und öffnete den Reißverschluss. Der Junge tat es mir gleich. Wir setzten uns auf die Decke, die er am Boden ausgebreitet hatte, um uns ein bisschen vor der Kälte, die von dem Steinboden ausging, zu schützen. Ein dünner Schlafsack aus Leinen kam zum Vorschein, den ich neben mich auf die Decke legte. Der Junge kramte noch in seinem Beutel herum, bis er schließlich eine Wasserflasche hervorzog. ,,Ist da was drin?", fragte ich hoffnungsvoll, er schüttelte jedoch verneinend den Kopf, ,,Das müssen wir später unbedingt machen. Ich verdurste." Nachdem wir beide unsere Taschen ausgeleert hatten, machten wir eine kurze Bestandsaufnahme. Neben den Messern, die wir Bulla abgeluchst hatten, seinem Schwert und meinem Messer besaßen wir keine weiteren Waffen. Jedoch war sein Beutel relativ voll mit einigen Lebensmitteln gewesen. Auf einer Dose Corned Beef stapelten sich zwei Packungen Trockenobst, zwei Packungen bröselige Cracker und -zu meiner großen Freude- drei Äpfel. Zudem hatte jeder von uns eine leere Wasserflasche und etwas Jod und in dem Rucksack des Jungen war außerdem ein spärliches Erstehilfe-Set mit Mullbinden, Klebestreifen und einer übel riechenden Salbe gewesen. Wir packten unsere Vorräte wieder in unsere Taschen, die wir in meinen Schlafsack stopften. Durch die Neonfarbe konnte man den Rucksack noch relativ gut durch den Leinenstoff durchscheinen sehen, jedoch war er jetzt um Längen weniger auffällig als vorher. Mit meinem Messer schnitt ich den Apfel, den wir nicht in den Rucksack gesteckte hatten, auf und halbierte ihn. Das Fruchtwasser floß die Klinge und den Griff hinunter, sodass ich sie gierig ableckte, um ja keinen Tropfen Flüssigkeit zu verschwenden. Während wir beide den halben Apfel und eine Tüte Trockenobst verschlangen, fragte ich wie beiläufig:,,Wie heißt du eigentlich?" Es war mir tatsächlich sehr unangenehm, seinen Namen nicht zu wissen, zu mal er mir das Leben gerettet hatte. Ohne von seinem getrockneten Apfelring hoch zu sehen, antwortete er:,,Tanning." ,,Ich bin May.", stellte ich mich ihm lächelnd vor. ,,Ich weiß.", schnaubte er. Irritiert blickte ich ihn an:,,Woher?" ,,Ähm...Dein Interview? Die Sponsorenbewertung? Dein Ausraster auf dem Balkon? Man kennt dich. Ich wünschte nur, ich hätte bei den Interviews die Idee gehabt, die Distrikte weiter gegen das Kapitol aufzustacheln. Dann würde man sich wenigstens an mich erinnern." Er nahm seinen letzten Happen Trockenobst in den Mund und sprang dann abrupt auf:,,Ich such uns was richtiges zu essen. Wir sollten unsere Vorräte nicht gleich am ersten Tag aufbrauchen." Ich nickte und entschloss mich dann, mich auf die Suche nach Wasser zu begeben. Ich steckte das kleinste Messer für einen Notfall in meinen Schuh, packte das von Fruchtsaft verklebte Messer in die rechte Jackentasche und nahm die zwei Flaschen mit. Ich schlich durch das Haus, in verschiedene Wohnungen, in der Hoffnung, irgendwo eine Kuhle zu finden, in der sich Regenwasser angestaut haben könnte. Im Erdgeschoss durchsuchte ich alle Räume, von denen es mir sicher erschien, mich in ihnen aufzuhalten. Hinter der letzten Tür fand ich eine Treppe in einen intakten Keller, der teilweise sogar noch möbeliert war. Auf schiefen Regalen sammelte sich Staub und auch auf dem Boden hinterließ ich Spuren. Mit klopfendem Herzen schlich ich an den Regalen entlang, weiter in einen kleineren Hinterraum. Als ich die Mitte des Raumes erreicht hatte, fiel mir ein leises Brummen auf, das aus einem weiteren Raum zu kommen schien. Dem Brummen nach, lief ich eine weitere Treppe hinunter in einen zweiten Keller, der ausschließlich durch das Licht, das durch die Tür in den oberen Keller fiel, beleuchtete wurde. Ich erkannte nicht viel durch den dunklen Raum und so tastete ich mich an einer staubigen Wand entlang, bis ich nicht mehr bröckeligen Putz, sondern einen kühleren, harten Stoff wie Metall unter meinen Hände spürte. Das Brummen ging von ihm aus. Meine Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, sodass ich erkannte, dass es sich um eine kleine in der Wand befestigte Klappe handelte. Ich schob sie mit einem leisen Quietschen auf und fand dahinter ein Rohr. Das Brummen war kein elektrisches Brummen oder ähnliches gewesen. Es war in den Rohren rauschendes Wasser gewesen. Das Rohr wirkte rostig und nicht sehr stabil, also entschied ich, dass es sicherlich möglich war, in das leichte Metall mit einem meiner Messer ein Loch hinein zu schlagen. Die oberste Schicht des Rohrs blätterte bereits ab und es dauerte nicht lange, bis ich durch den Rost hindurch war. Ungläubig schob ich meine Hand in das kleine Loch und spritzte mir das kühle Wasser ins Gesicht. Ich füllte die erste Flasche auf und trank sie dann in einem Zug aus. Das eiskalte, metallisch schmeckende Wasser lief meine brennende Kehle hinunter und stillte den Durst, den ich seit mehreren Stunden verspürt hatte. Ich füllte beide Flaschen aufs neue auf und wollte gerade zurück nach oben gehen und Tanning das Wasser zeigen, als ich im Nebenraum Schritte hörte. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen oder gar zu atmen. Wer war das? Auf einmal hörte ich eine tiefe Männerstimme:,,Na wen haben wir denn da?" Lucretius.

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt