Kapitel 9

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Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn, als ich am morgen aufwachte, lag ich unter der Decke und hatte weder Schuhe noch die Jacke an. Die standen unter dem Bett und die Jacke lag auf dem Nachttisch. Wahrscheinlich war das Siloh gewesen, bevor sie gegangen war. Ich streckte mich und lief auf dem schwarzen Marmorboden hinüber in das angrenzende Bad. Ich duschte mich und steckte meine Haare zu einem Knödel hoch. Als ich wieder kam, bemerkte ich, dass jemand die Trainingskleidung mit einer aufgestickten Acht für mich auf den Tisch an der Wand gelegt hatte. Ich zog das dunkelblaue Poloshirt mit hellblauen Seitenstreifen und die farblich passende Leggins an und ging in das Speisezimmer, um zu frühstücken. Doch dort war bereits bis auf einen einsamen Brotkorb alles abgedeckt und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits viertel vor neun war und die anderen schon gefrühstückt hatten. Ich schnappte mir eine längliche Laugensemmel und ging in das Wohnzimmer, wo ich letztendlich alle fand. Siloh hatte das gleiche an wie ich und hatte die Arme verschränkt. Als Stev mich bemerkte, blickte er auf. ,,Ah, gut. Du bist auch endlich aufgewacht. In fünf Minuten sollt ihr für das Training unten sein. Ich hab Siloh nur grad noch erklärt, dass ihr eure Talente noch nicht zeigen sollt. Sonst sind die anderen darauf vorbereitet und wissen sich zu wehren." Er stand auf. ,,Und die Sponsoren?", fragte ich irritiert. Ohne sich umzudrehen antwortete er:,,Die kannst du später noch von dir überzeugen. Kommt ihr?" Er hielt uns den Aufzug auf und wir stiegen ein. Im Fahrstuhl flüsterte mir Siloh ins Ohr:,,Is mir doch egal, was der sagt. Ich hab keinen Bock, dass ich da stehe wie das Mädchen, das gar nichts kann. Dann sterbe ich beim Gemetzel und hab denen nicht mal gezeigt, dass ich's kann. Und du?" Und ich? Ich zuckte mit den Schultern. Mein Gott hatte dieses Mädchen Mut.

Im Trainingscenter hielt uns eine Dame einen Vortrag, dass wir die Überlebensstationen nicht vernachlässigen sollten und packte Statistiken aus, wie viel Prozent von uns an was sterben würde. Das einzige, was ich mir gemerkt hatte, war, dass am erstem Tag schon circa 50% starben. Das schockierte mich ziemlich. Ich mein, klar, das wusste ich. Jedes Jahr starben beim Gemetzel etwa die Hälfte, aber wenn ich mich so in dem Raum umsah, war es schwer zu begreifen, dass jeder zweite in vier Tagen tot war. Da waren die sechs Karrieros, die der Dame überhaupt nicht zuhörten, sondern nur die Waffen anguckten und selbstgefällig grinsten, als könnten sie es gar nicht erwarten, Waffen in die Hand zu nehmen und zu morden. Gut, so war es wahrscheinlich auch. Dem und Bug standen bei Siloh und mir und hörten wie 75% von uns der Dame zu. Sie entließ uns mit den Worten:,,Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Vernachlässigt nicht die Überlebensstationen! In der Arena ist es um einiges wahrscheinlicher, an Dehydrierung zu sterben, als an einem Schwert durch einen anderen Tribut. Viel Glück!" Ich stand auf und lief auf die Kletterwände zu. Ich kam etwa bis zur Hälfte, doch dann kam ein Vorsprung und ich konnte nicht weiter klettern. Unten hörte ich ein paar Karrieros, die sich über jemanden unbekannten lustig machten, der Bogen schoss und nicht einmal traf. Ich wusste zwar nicht, wen sie meinten, da die Station mit den Bogen in einem kleinen extra Raum lag, den ich von hier aus nicht sehen konnte, doch ich wusste ganz genau, dass ich ihnen ihre Arroganz und ihre Abneigung gegenüber uns so gerne heimzahlen würde. Ich malmte mit dem Kiefer und versuchte, an der Wand irgendwo Halt zu finden. Natürlich fand ich keinen Halt, verlor das Gleichgewicht und fiel herunter. Gut, Steilwandklettern zählte schon mal nicht zu den Dingen, die ich den Sponsoren vorführen konnte. Da ich  aber auf die Schnelle keine Station sah, die frei war, ging ich nur etwas weiter zu einem Netz, was schon etwas besser klappte. Während ich das Netz hochkletterte, suchte ich den Raum nach bekannten Gesichtern ab. Siloh warf gerade ein Messer auf eine Gummipuppe und der Leiter der Station berichtigte ihre Beinstellung. Von ein paar Metern Entfernung traf sie schon ziemlich gut. Ich war froh, dass ich mir um sie keine Sorgen machen musste. Das Mädchen mit den spitzen Zähnen aus Distrikt 4 warf im Raum neben ihr Speere und traf jedes einzelne mal genau die Mitte der Zielscheibe. Ich fand das ziemlich beunruhigend. Dem schaute sich ein Schaubild an, an dem zu erkennen war, wie man Wasser fand und filterte. Neben ihm am Boden lagen ein paar Schalen. Sein Bruder versuchte sich im Bogenschießen, wobei er aber kläglich scheiterte. Wahrscheinlich hatten die Karrieros ihn gemeint. Ginger kletterte die gleiche Felswand wie ich davor hinauf, doch als sie an die Ausbuchtung nach vorne kam und es steiler als senkrecht ging, verlor sie ebenfalls den Halt und fiel herunter. Sie schrammte sich wohl irgendwo doof auf, denn ihr Daumen blutete plötzlich. Sie nahm ihn in den Mund und schaute unglücklich zu den Karrieros, die sie lachend ansahen und sich dann wieder dem Schwertkampf und dem Speerwurf widmeten. Ich blieb mit meinem Fuß in einer Schlaufe hängen und verhedderte mich. Ich versuchte mich wieder los zu machen und fiel dabei fast herunter. Ich konnte mich noch rechtzeitig auffangen und schaffte es doch noch irgendwie nach oben. Der Betreuer ermahnte mich, konzentriert zu bleiben. ,,Ja, wenn das so einfach wäre.", murmelte ich, ,,ich möchte Sie mal mit einer Fahrkarte ins Jenseits ein Fischernetz hochklettern sehen." Oben angekommen, kletterte ich eine sich drehende Strickleiter herunter und lief von da aus zu Siloh, um ebenfalls Messer zu werfen. Siloh war gerade fertig und so kam das ältere Mädchen aus Distrikt 12 dran. Sie traf selten, aber immerhin ein paar mal. Während sie warf, stellte sich Ginger hinter mir an. Obwohl sie einen ganzen Kopf kleiner war als ich, schien sie fest entschlossen, in der Arena nicht zu sterben und passte gut auf, als das Mädchen aus 12 warf und von dem Trainer verbessert wurde. Das Mädchen vor mir war fertig und ich griff mir eines der Messer. Ich war erstaunt, wie leicht es für ein Messer war. Ich stellte mich breitbeinig hin und drehte das Handgelenk in einer Wurfbewegung, ohne das Messer loszulassen. ,,Ja, das ist schon ganz gut. Versuch aber das Messer so zu halten.", sagte der Betreuer und drehte das Messer in meiner Hand ein wenig anders. Ich bemerke absolut keinen Unterschied. Aber ich warf es trotzdem. Es landete nicht wie erhofft auf der Zielscheibe im Kopf, sondern ein paar Zentimeter nach rechts versetzt. Doch dafür, dass ich davor kaum Messer geworfen hatte, war das echt gut. Ich warf noch ein paar mal und legte das Messer, mal so hin, wie es besser in meiner Hand lag, mal so, wie es der Betreuer mir empfohlen hatte. Ich merkte schnell, dass ich es besser werfen konnte, wenn ich es so hielt, wie ich es besser empfand. Als nur noch ein paar Messer nicht neben der Puppe lagen, blickte ich auf das, was ich geschafft hatte. Sechs Messer lagen am Boden, aber in etwa zwölf steckten irgendwo im Körper der Puppe. Ich war gar nicht so schlecht. Ich warf eines der letzten Messer und traf in die Zielscheibe. Ich lächelte selbstzufrieden und schaute nach, ob das vielleicht irgendwer sonst noch bemerkt hatte. Natürlich nicht. Die Sponsoren saßen oben auf ihrer Tribüne und schlürften eine bläuliche Flüssigkeit aus kleinen Gläsern. Die Tribute waren mit ihren Stationen beschäftigt. Und sogar mein Betreuer hatte gerade nicht hin gesehen und sein einziger Kommentar war:,,Du hältst das Messer falsch!" ,,So kann ich aber besser werfen?", antwortete ich leicht vorwurfsvoll und ballte die Fäuste.,,So isses aber falsch.", konterte er mit einem richtig schlagkräftigen Argument. ,,Aber wenn ich so besser werfen kann! Darf ich denn nicht so werfen, wie ich's besser kann?", fragte ich und überlegte das letzte Messer auf ihn zu werfen. ,,Du kannst schon so werfen, aber so isses halt falsch. Es ist doch schöner, wenn du richtig wirfst!", antwortete er jetzt auch genervt. Ich starrte ihn entgeistert an. ,,Sie wissen schon, dass ich in ein paar Tagen in der Arena sitze und diese Messer nicht auf eine Gummipuppe, sondern auf jemanden, der sich in diesem Raum befindet werfen werde? Ich kann in der Arena auch nicht sagen: Oh tschuldigung, jetzt hab ich dich wohl verfehlt und du kannst mich töten. Naja. Nicht so schlimm. Immerhin hab ich richtig geworfen. Scheißegal wenn ich tot bin. Hauptsache ich werf schön! Es für Sie vielleicht egal, wie Sie ein verdammtes Messer werfen, weil Sie am Ende eines Tages so oder so, egal ob Sie treffen oder nicht, sich in Ihr Designer-Federbett legen und am Morgen wieder sicher aufwachen. Für mich ist es aber nicht egal, weil ich in ein paar Tagen schon tot sein kann. Also lassen Sie mich jetzt gefälligst so werfen, wie ich es besser kann, weil es für mich über Leben und Tod entscheiden kann, ob ich treffe oder nicht." Der Betreuer starrte mich ärgerlich an und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich blickte fokussiert auf die Puppe und warf das letzte Messer. Es traf die Puppe am Oberschenkel. Naja. Immerhin. Ich beschloss, erstmal wieder etwas Überlebenstechniken zu üben und ging hinüber zu Dem, der immer noch mit seinem Wasserfilter beschäftigt war. ,,Hi!", sagte ich und hockte mich neben ihn. ,,Hi...", antwortete er abwesend und füllte ein paar Kiesel in eine leere Flasche. Ich blickte auf das Bild und schüttete etwas Sand hinterher. ,,Hast du schon Waffen getestet?", fragte ich ihn, um ein Gespräch anzukurbeln. Er ließ einen grunzenden Ton hören und spannte einen Baumwollfetzen über das Ende der Flasche. Ich seufzte. Mit ihm war wohl jetzt kein Gespräch möglich. Ich ging also eine Station weiter und versuchte, mit den verschiedensten Werkzeugen Feuer zu machen. Als es mir gezeigt wurde, sah es zwar ganz einfach aus, aber als ich es selber versuchen sollte, brachte ich nicht mal Rauch zustande. Ich war ehrgeizig und wollte unbedingt wenigstens eine kleine Flamme schaffen. Doch als ich endlich etwas zustande brachte, war es nur eine mickrige Flamme, die nicht mal warm war. Aber da es bereits Mittag war und die meisten Tribute Essen gegangen waren, sahen zum Glück nur ein paar, wie blöd ich mich anstellte. Nur vereinzelt waren ein paar Betreuer noch beschäftigt. Unter denen, die noch da waren, erblickte ich auch Siloh. Nachdem ich mein Feuer gelöscht hatte, was deutlich einfacher war, als eines zu entfachen, lief ich zu ihr herüber, die sich gerade mit Pflanzenkunde beschäftigte und giftige und ungiftige Pflanzen trennte. ,,Gehst du nicht essen?", fragte sie mich, während sie Himbeeren als essbar einordnete. Ich zuckte mit den Schultern. ,,Bleib konzentriert. Lass dich nicht ablenken!", ermahnte der Betreuer sie  und blickte mich böse an. Siloh blickte entschuldigend und tippte auf mehr Pflanzen auf dem Monitor. Gut, dann halt nicht. Ich wollte gerade zur Tür hinaus, als mir auffiel, dass es eigentlich ganz sinnvoll wäre, jetzt hier zu bleiben. Ich könnte die Station machen, die sonst von den Karrieros belagert sind, ohne dass sie sich über mich lustig machten. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zum Bogenschießen und Schwertkampf. Überleben konnte ich später üben. Jetzt musste ich den Sponsoren erst mal zeigen, dass ich auch kämpfen konnte. Und -verdammt noch mal- ich würde kämpfen!

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt