Kapitel 30

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Nachdem wir uns alle erleichtert in die Arme gefallen waren, setzten wir uns auf den Boden um Bug herum in einem Verkaufsraum weit hinten. Es schien ein wenig Licht durch eine staubige Glasscheibe einige Meter von uns entfernt zu uns hinein, von der aus man gut die Straße überblicken konnte, ohne selber gesehen zu werden. Bug lehnte, eine graue schmutzige Decke bis zum Kinn gezogen, halb liegend gegen eine morsche Holzwand und hatte die Augen nur halb geöffnet. Sein Gesicht war schneeweiß, seine Lippen nur schmale aufeinander gepresste Striche. ,,Alles okay?", fragte ich ihn vorsichtig, nur um es einige Sekunden später wieder zu bereuen. Ganz offensichtlich war nicht alles okay. Bug wollte etwas antworten, bekam jedoch einen Hustenanfall, der seinen schmalen Körper schüttelte. Dem stürzte sofort nach vorne und hielt seinen kleinen Bruder fest, bevor dieser umkippte. Kraftlos und schwer atmend ließ Bug sich sinken und legte seinen Kopf mit bereits geschlossenen Augen auf Dems Oberschenkel. ,,Wie lange geht das schon so?", fragte Siloh, die neben mir auf ihrer Jacke saß und den schlafenden Bug betrachtete. ,,Seit gestern Morgen etwa. Ich hab seitdem kaum geschlafen. Ich will einfach nicht, dass er mitten in der Nacht...", Dem hielt mitten im Satz inne, jedoch wussten wir genau wie er endete. Siloh nickte verständnisvoll, während sie den Blick von dem kleinen zusammengesunkenen Körper nicht abwandte. ,,Weißt du, ist ihm schlecht, hat er gebrochen oder sind es nur Hustenanfälle?", fragte Siloh weiter. Ratlos warf Dem seine Hände in die Luft. ,,Er hat sich einmal übergeben, ja, aber er schläft die meiste Zeit und wenn er wach ist, versuche ich ihm irgendwie Wasser einzuflößen oder schneide Essen in winzig kleine Stücke, sodass er nicht mehr kauen muss und geb sie ihm irgendwie. Aber du siehst ja, wie er aussieht, wir reden quasi nicht. Er ist zu kraftlos für alles. Ich versuch ihm ja irgendwie zu helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich bin so hilflos, ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Vorhin, ich- ", er brach ab und presste sich die Handballen gegen die Augenlider. ,,Es ist so schwer, wisst ihr. Ich sitz nur hier und kann nichts machen und seh meinen Bruder vor meinen Augen sterben. Und ich geb ihm die Schuld, obwohl er am wenigsten etwas dafür kann. Ich hab ihn vorhin angeschrien, er soll sein verdammtes Brot essen, bevor er stirbt, aber was soll er denn machen? Er kann nunmal nicht essen. Ich versuch wirklich stark zu sein, für ihn. Aber ich bin selber nur achtzehn. Das ist nicht so erwachsen, wie es klingt. Das-", er brach erneut ab und rieb sich kopfschüttelnd die Stirn. ,,Sorry, interessiert euch wahrscheinlich eh nicht." Erschrocken winkte ich ab. ,,Red ruhig. So viel zu tun gibt's hier eh nicht." Siloh lehnte mit geschlossenen Augen gegen die kalte Betonwand und antwortete ohne die Augen zu öffnen. ,,Ich hör dir schon zu. Uns allen geht's doch so." ,,Nein, euch geht's nicht so. Ihr versteht das nicht. Entweder sterbe ich, oder mein Bruder, oder wir beide. Es gibt quasi keine Möglichkeit, in der wir unser normales Leben weiterführen könnten. Wenn du gewinnst, Siloh, kannst du dein Leben irgendwie normal weiterleben. Und zwar besser als vorher. Aber wenn ich gewinne, hab ich keinen Bruder mehr. Oder ich sterbe halt und lass Bug leben, aber ganz ehrlich- wie stehen die Chancen dafür? Schaut ihn euch mal an." Mein Blick wanderte zu Bug, der zusammengesunken am Boden kauerte und trotz Decke und zweier Jacken mit umschlungenen Armen zitterte. Ab und zu schnappte er röchelnd nach Luft. Wenn er nicht bald ärztliche Versorgung bekam, würde er in diesem klammen, kühlen Verkaufsraum sterben. Und zwar bald. Wir alle blickten gedankenversunken in die Leere, während die warme Mittagssonne durch das staubige Glasfenster hereinschien und leuchtende Muster auf den feuchten Steinboden malte. Mit einem mal stand Siloh auf und zog ihre Jacke an. ,,Lasst uns was zu essen suchen. Dem, du magst hier bleiben, oder?" Er blickte Bug an und nickte dann. ,,May? Kommst du mit?", fragte sie mich mit einem erwartungsvollen Blick. Ich sah Dem in die Augen. ,,Kommst du alleine klar?" Müde lächelnd erwiderte er:,,Geht schon!" Hastig stand ich auf und packte ein Messer aus meinem Rucksack in meine Hand. ,,Wir beeilen uns!", versprach ich Dem und eilte Siloh hinterher, die den Laden schon verlassen hatte und ungeduldig wartete. ,,Okay, lass uns uns beeilen, wo könnten wir was essbares finden?" Mir war nicht ganz wohl bei dem Gefühl, Dem alleine bei seinem sterbenden Bruder zu lassen. Er war eh schon lang genug alleine gewesen. ,,Ich denke, hier gab es mal nen Lebensmittelladen. Vielleicht gibts da noch alte Dosenraviloli oder so. Ich geh mal im Keller nachschauen und du schaust hier?", schlug sie vor. ,,Oh, vergiss es! Ich hab mich von Tanning getrennt, als wir Wasser suchen wollten und der ist jetzt tot, du wirst mich nicht so schnell los!", entgegnete ich. ,,Wer ist Tanning?", fragte Siloh nur irritiert und hüpfte die Rolltreppe hinunter. ,,Der Junge aus Distrikt 7. Er hat mir am Füllhorn das Leben gerettet. Lucretius hat ihm ein Schwert... hat ihn umgebracht." Allein beim Gedanken an Tannings blutenden Körper und seine Augen, die leblos ins Leere gestarrt hatten, schnürte sich mir die Kehle zu. ,,Ist... Ist nicht so wichtig.", stammelte ich, während ich versuchte, mich auf die Stufen vor mir zu konzentrieren. In dem Keller des Einkaufszentrums fanden wir tatsächlich einen großen Lebensmittelladen, dessen Fenster eingeschlagen waren und der hauptsächlich leere Regale hatte. Die Glasscherben knirschten unter unseren Stiefeln, als wir den Laden betraten und weiter hinter gingen, in der Hoffnung dort gefülltere Regale zu finden. Siloh half mir durch ein umgestoßenes Regal durch zu krabbeln, an dessen Ecke ich mir prompt den Unterschenkel anhaute. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meinen Körper wie einen Pfeil und ich war mir sicher, dass meine Wunde wieder zu bluten begonnen hatte. ,,Oh shit, alles okay?", fragte Siloh und bückte sich, um meinen Verband zu beäugen. ,,Ja, alles gut!", bestätigte ich und humpelte weiter. Siloh zuckte mit den Schultern und folgte mir. Wir durchkämmten schweigend den halben Laden, bis wir weit hinten in einer der Ecken Regale fanden, in denen sich noch einige Dosen an Eingekochtem befanden. ,,Na davon können wir jetzt aber einige Tage überleben!", freute sich Siloh und begann, die Dosen in ihren Rucksack zu packen. Ich half ihr und gemeinsam verließen wir wieder den Laden. Als wir uns im Erdgeschoss befanden, hörte ich auf einmal Schritte. Ich befahl Siloh still zu sein. Angespannt lauschte ich in die kühle Abendluft. Vorsichtig lief ich ein wenig näher an ein Loch in der Wand, um besser hören zu können, was sich etwa dreihundert Meter weiter abspielte. Schnelle leichtfüßige Schritte hetzten die Straße entlang, gefolgt von lauten polternden Schritten. Auf einmal endeten die Schritte abrupt. Ich hörte Lucretius dreckig lachen:,,Du bist sowas von tot. Überleg dir schon mal deine letzten Worte!" Sein Gegenüber erwiderte nichts. Auf einmal setzten die Schritte wieder ein, gleichzeitig mit einem markerschütternden Schrei. Ich hörte, wie Metall klirrte und zu Boden fiel, gefolgt von einem dumpfen Laut, der sich anhörte, wie ein Mensch, der umgefallen war. Wer auch immer dort gerade gegen Lucretius kämpfte, hatte ihn also irgendwie zu Boden geworfen. Mich fragend, wie das überhaupt möglich war, bei einem Schrank wie ihm, lugte ich vorsichtig aus dem Loch, konnte jedoch nichts sehen. Siloh nickte mit dem Kopf in Richtung unseres Lagers. ,,Komm!", flüsterte sie ihm Befehlston, ,,Misch dich da nicht ein! Du weißt nicht wer das ist! Und solange dein Fuß so aussieht, solltest du schon gleich gar nicht kämpfen!" Ich nickte und wand mich von dem Loch ab, um wieder zu Dem zurückzukehren, als ich auf einmal innehielt. Von wegen, ich wusste nicht, wer das war! Ich wusste genau, wer das war und ich konnte sie nicht einfach Lucretius zum Fraß vorwerfen. ,,Sag Dem, ich komm gleich nach!", rief ich Siloh zu und rannte so gut es ging los. ,,May! Tu das nicht!", schrie sie mir warnend nach, doch ich achtete nicht auf sie. Mein pochendes Bein war mir nun herzlich egal, genauso wenig wie die Tatsache, dass Lucretius nicht gerade zimperlich mit seinen Opfern umging. Das einzige was zählte, war Ginger, die gerade ringend um ihr Leben kämpfte. 

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt