Kapitel 27

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Mit glasigen Augen starrte ich an die halbzerfallene Wand gegenüber von mir und wartete. Ich wusste nicht genau, worauf ich wartete, aber ich wusste: Wenn ich mich jetzt bewegte, übergab ich mich erneut. Und das wollte ich um jeden Preis verhindern. Zitternd führte ich die kühle Wasserflasche an meinen Mund und ließ das metallisch schmeckende Wasser meine wunde Kehle hinunter laufen. Es war draußen bereits dunkel, jedoch war an Schlaf nicht zu denken. Der Junge, der hier mit mir noch vor wenigen Stunden gesessen hatte, war jetzt tot und moderte in dem Keller vor sich hin, da das Hovercraft noch nicht erschienen war, um ihn abzuholen. Ich war wohl noch zu nah an der Leiche, sodass sie warteten, bis ich mich entfernte. Aber ich konnte nun nicht laufen, ich konnte mich ja nicht einmal in den Schlafsack legen. Alles, was ich konnte, war dasitzen und an die fahle Wand blicken. Auf einmal hörte ich die Hymne des Kapitols. Ich wollte nicht aufstehen, doch die Ungewissheit über das Überleben meiner Freunde hatte mir schon den gesamten Tag schwer zu schaffen gemacht. Ich hatte Siloh seit dem Blutbad nicht mehr gesehen und wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Schwer atmend rappelte ich mich also auf und krabbelte zu der kleinen Lücke in der Wand, durch die man das Wappen des Kapitols, das auf die Kuppel der Arena projizieret wurde, erkennen konnte. Ich stütze mich keuchend auf den bröckeligen Steinen ab und sah dem Adler zu, wie er verschwand und Gleams Gesicht angezeigt wurde. Es folgte Bulla, von der ich bereits wusste, das sie tot war. Ich hielt angstvoll die Luft an, als Bulla verschwand, jedoch tauchte weder das Gesicht von Dem, noch das von Bug auf, was bedeutete, dass beide noch lebten. Erleichtert seufzte ich und lehnte meinen Kopf an die harte Steinwand. Aus Distrikt vier war keiner gestorben, dafür aber beide aus Fünf. Das Mädchen mit den kurzen stoppeligen Haaren aus Distrikt 6 wurde gezeigt, gefolgt von Tanning, dessen Anblick mich in eine Schockstarre versetzte. Ich zitterte am gesamten Körper, obwohl mir brennend heiß war. Ich bekam kaum mit, wie sein Gesicht erlosch und die Gesichter der Jungen aus Neun und das Gesicht des jüngeren Jungen aus Distrikt 11 an die Kuppel projizieret wurde. Ginger, Siloh, Dem und Bug lebten noch. Wir alle lebten entgegen aller Erwartungen noch. Freudig überrascht lächelte ich müde und wollte aufstehen, doch mir wurde augenblicklich schwarz vor Augen, sodass ich mich wieder setzte. Das jüngere Mädchen aus Zwölf wurde gezeigt und schließlich das Ältere. Das Bild verlosch und zurück blieb ein schwarzer Himmel. Das jüngere Mädchen aus Distrikt 12 war nun also auch tot. Das Mädchen mit dem ich gekämpft hatte. Ich war wohl seine Mörderin. ,,Unsinn, May, Lucretius hat ihr wahrscheinlich den Rest gegeben, als sie hilflos am Boden lag, die ist nicht wegen dir gestorben!", versuchte ich mir einzureden. Jedoch ließ mich das klitzekleine ,,Vielleicht" die halbe Nacht wachliegen.

Mit pochenden Kopfschmerzen wachte ich auf. Ich hatte kaum geschlafen und wäre nun noch um einige Stunden dankbar gewesen, jedoch waren die Spielmacher der Meinung, die ,,Sonne" solle am besten um sechs Uhr morgens aufgehen, sodass möglichst wenig Zeit zum Schlafen und mehr Zeit zum Morden blieb. Grummelnd kämpfte ich mich aus dem Schlafsack und stand langsam auf, um die Wasserflasche zu öffnen. Ich trank nicht allzu viel, weil ich es nicht schon heute aufbrauchen wollte. Und wenn ich das Wasser erneut auffüllen wollen würde, müsste ich erst an Tanning vorbei und das schaffte ich nun einfach nicht. Mit der flachen Hand rieb ich mir über die fettige Stirn. Was sollte ich jetzt bloß tun? Lucretius würde wieder kommen, sobald er neues Wasser brauchte und wenn Tanning immer noch am Boden läge, blutüberströmt und mit verdrehtem Arm, würde es nicht mehr lange dauern, bis er Jagd auf den Tribut in der Nähe machen sollte. Hektisch rollte ich den Schlafsack zusammen und stopfte ihn mit den Lebensmitteln in den Rucksack. Tannings Beutel legte ich oben drauf. Es schadete nicht, ihn wenigstens zu haben. Die zusammengerollte Decke legte ich auf den Rucksack und verschnürte ihn so, dass die Decke nicht herunterfiel. Ich schwang den Rucksack auf meine Schulter und begab mich zu der Tür, als ich plötzlich einzelne Stimmen hörte. ,,Shit, shit, shit!", fluchte ich leise, während ich fieberhaft versuchte, eine Möglichkeit zu finden, den Karrieros dort unten zu entkommen. Lucretius' Stimme drang zu mir herauf. ,,Okay, wir suchen jetzt einfach und wer den Tribute findet, darf ihn umbringen." ,,Moment!", meldete sich eine raue Mädchenstimme, ,,Wir haben ausgemacht, dass ICH den Tribut kriege." ,,Wann haben wir das denn bitte ausgemacht?! Nur weil du am Füllhorn zu langsam warst!", entgegnete ein anderes Mädchen bestimmt. Ich lief langsam zurück zu der Treppe nach oben, um keinen Lärm zu verursachen. ,,Du hast mir die Pickelfresse aus 9 vor der Nase weggeschnappt. Ich hatte den schon fast!", schrie die raue Stimme nun aufgebracht. Ich hatte den nächsten Stock bereits erreicht. ,,Tja, wer zuerst kommt!", prustete das zweite Mädchen vergnügt und lief die ersten Stufen hoch. Ich hörte ein lautes Poltern und den Schrei eines Menschen, der zu Boden gerissen wurde. Nur leise konnte ich verstehen, wie jemand jemand anderem etwas zu zischte. Plötzlich hörte ich Lucretius bellen:,,Habt ihr mich verstanden?" Jemand murmelte etwas, vermutlich die Mädchen. ,,Ob ihr mich verstanden habt!", donnerte er erneut. ,,Ja-ha.", knurrten die Mädchen. ,,Gut, denn das ist genau das Verhalten, das wir hier nicht brauchen können. Schlimm genug, dass Gleam und Bulla tot sind, ihr müsst euch jetzt nicht auch noch gegenseitig umbringen. Das darf höchstens ich." Ich hörte ein zustimmendes Lachen. ,,Und jetzt leg den Bogen weg, oder du stirbst noch hier an Ort und Stelle." Grummelnd rappelten sich zwei Körper auf. Ich war bereits am Dach angekommen und blickte in knapp 15 Meter Tiefe. Verzweifelt drehte ich mich um mich selbst, in der Hoffnung eine Brücke auf ein anderes Hausdach zu finden, was natürlich lächerlich war. Was mussten die Spielmacher gerade ihren Spaß haben. Und die Präsidentin erst. ,,Wer den Tribut findet, darf ihn umbringen. Ende der Diskussion!", keifte Lucretius und Schritte setzten sich in Bewegung. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als die Schritte hinter mir im Treppenhaus immer näher kamen. Das Poltern und Aufstoßen der Türen drang bis zu mir hinauf. Das Dach gegenüber war etwa drei Meter entfernt. Ich blickte hektisch hinter mich, wo die schweren Schritte sich unüberhörbar näherten. Nicht mal ein langer Balken fand sich auf dem Dach, den ich als Leiter verwenden könnte. Furchtsam blickte ich nach unten. Drei Meter dürften doch zu schaffen sein, oder? Prüfend kickte ich einen Kiesel nach unten. Er brauchte gerade mal eine Sekunde. Ich wollte da nicht runterfallen. Ich wollte da definitiv nicht runterfallen! Mit dem schwarzhaarigen Mädchen konnte ich es vielleicht noch auf nehmen, vielleicht auch mit dem spitzzahnigen Mädchen aus Distrikt 4, doch sollte Lucretius auf das Dach kommen, so könnte ich genauso gut dort runter springen. Langsam trat ich von der Kante weg. Tief durchatmen. ,,Nimm einfach Anlauf und spring. Du machst nur Weitsprung in der Sandgrube, nichts weiter. Nur Weitsprung...", sprach ich mir selber immer wieder vor. Die Schritte waren vor der Tür angekommen. Jemand rief etwas. Die Person vor der Tür lachte dreckig. Nimm Anlauf! Nimm doch endlich Anlauf! Quietschend öffnete sich die Tür. Fest umklammerte ich das Messer in meiner Hand. Für einen kurzen Moment, blickten wir uns direkt in die Augen. ,,ICH HAB SIE!" Poltern und hektische Rufe tönten zu mir herauf. Lucretius schwang unheilverkündend sein Schwert und rannte auf mich zu. Noch knapp zehn Meter trennten uns. Ich nahm Anlauf. Noch sieben Meter. Lucretius machte einen riesigen Satz nach vorne und hob sein Schwert über den Kopf. Nicht nach unten blicken! Denk an die Sandgrube! Ich lief so schnell ich konnte auf die Kante zu. Mit einem lauten Schrei folgte mir Lucretius. Der Putz bröckelte unter meinen Füßen, als ich mich vom Boden wegdrückte. Ich sprang. Ich flog. Ich fiel.

Survival of the fittest- A Hunger Games StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt