•Prolog•

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Ein Knall riss mich aus meinem Schlaf. Zunächst war ich verwirrt, da es draußen stockfinster war. Ich blickte auf meinen rosaroten Lillyfee Wecker, doch auch dieser deutete mir, dass es tiefste Nacht sei. Zitternd vor Kälte, mit nackten Füßen und meinem Kuschelbär unterm Arm, tappste ich die Treppe hinunter um nachzusehen, was dieses Geräusch verursacht hatte, doch als ich ihn sah, entwich mir nur ein erschrockenes Keuchen. Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln.

Es schien als erstickte ich an meinen eigenen Tränen, an dem Kloß in meinem Hals und der Trauer in meinem Herzen.

Ich hörte wie jemand die Treppe runter polterte, spürte den Luftzug, hörte ihren Schrei, als sie Ihn sah. Ich konnte meine Augen nicht von dem Anblick wenden. So viel Blut, so viel Elend, so viel Schmerz.
Ich merkte, wie die Tränen in Bächen über meine zartrosanen Wangen flossen, bis sie schließlich in fadenähnlichen Rinnsalen verebbten. Die Kälte im Raum blendete ich aus, einzig und allein mein Herz war von einer Eiseskälte umgeben.

Wenig später wimmelte es in unserem Haus nur so von unbekannten Männern in Uniform. Sie packten Papa in einen schwarzen Beutel und schoben ihn in den Wagen. Alles was von ihm blieb, war das viele Blut auf dem Boden und der Gutenachtkuss wenige Stunden zuvor.

Nie wieder, wird er mich zärtlich in den Arm nehmen, wenn ich Albträume habe.

Nie wieder, wird er mich freudig Begrüßen, wenn ich aus der Schule komme.

Nie wieder, wird er mich vor den bösen Jungs beschützen.

Alles ging so schnell, als Papa in den Himmel kam und die vielen Leute mich mitleidig ansahen.
Ich frage mich wieso, schließlich ist Papa, jetzt dort oben und passt auf mich auf. Er ist doch immer noch da, spürt es denn keiner?
Mami schien es nicht zu spüren, sie sah nur mit leeren, trostlosen Augen auf den Stein vor uns, Papas Stein.
Ich sah sie kein einziges Mal weinen, denn so leer wie ihr Blick war, so leer schien ihr Herz.

Noch kurz darauf zogen Mami und ich weg, es ging alles so wahnsinnig schnell, als würden wir wegrennen.
Wegrennen vor Papa und all dem Schmerz, den er mit sich bringt. Ich wollte gar nicht von zu Hause weg, ich wollte hier bleiben.
Ich hatte ein Versprechen gegeben, doch schließlich musste ich ihn hier lassen.

Meinen Adrian.
Wir waren unzertrennlich, ließen einander nie im Stich und schworen uns immerwährende Freundschaft. Nur er und ich, niemand sonst. Wir gegen den Rest der Welt.
Damals, im Kindergarten, machte er mir mal einen Antrag, doch ich kicherte damals nur wie ein verrücktes Kleinkind und verneinte.

Wie sollte ich meinem besten Freund erklären, dass ich ihn in dieser schweren Zeit alleine lasse? Aber das regelte Mama schon für mich, ich durfte mich nicht einmal verabschieden und schon wurde ich in das Auto gezerrt. Ich habe ihn allein gelassen, als er mich am meisten brauchte, ohne, dass er wusste, wie sehr ich ihn brauchte.

Mutter hatte sich von ihrer Art erheblich verändert. Sie war nicht mehr die lebenslustige, glückliche Person.
Sie schrie und schlug, doch alles was ich wahrnahm war nur noch Dumpf und Leer.

Ich weiss nicht einmal, ob es noch normal war, wusste gar nicht, ob es überhaupt normal war. Für mich war es das.

Ich konnte mich nicht sehr gut konzentrieren und lernen, weil ich meist nicht einmal richtig sitzen konnte vor Schmerzen. Es war wie ein Teufelskreis, denn jedes mal wenn ich eine schlechte Note nach Hause brachte, passierte es wieder und dabei blieb es nicht nur bei einer Ohrfeige.

Irgendwann schaffte ich es zu lernen, den Schmerz zu ignorieren und mein Notenspiegel hob sich.
Als ich den Anschluss in der Schule fand, ging alles wie von der Hand, was sich letztlich auch in meiner Freizeit bemerkbar machte.

Jeden Abend schlich ich mich heimlich in unseren Garten und übte das, was mein Papa mir beigebracht hatte. Kickboxen, was anfangs nur zu Selbstverteidigung zählte, wurde zu einer Leidenschaft, die mich noch heute mit ihm verband.

"Du bist gut", hörte ich eine Stimme hinter mir.
Ich hatte mich so erschrocken, sodass ich mich umdrehte und dieser Person einen rechten Haken verpasste. Der alte Mann taumelte ein wenig und hielt sich das Kinn. Erschrocken zog ich die Luft ein, das schlechte Gewissen machte sich in mir breit. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an.
"Entschuldigung", wisperte ich noch immer erschrocken.

"Es tut mir so leid, ich hatte nicht erwartet, ich-"
"Kraft, hast du aber wir müssen dringend an deiner Technik und an deinen Impulsen arbeiten, junges Fräulein", unterbrach mich der Mann, der ins Laternenlicht trat und nun gar nicht mehr so gebrechlich aussah wie anfangs angenommen.
Und er hatte recht behalten, es blieb nicht der einzige Abend, an dem ich mich raus schlich und mich mit Olaf traf.
Er war boxte gut, aber er war ein noch besserer Lehrer.

Er zeigte mir, wie ich mich verteidigen konnte. Er zeigte mir, wie ich Kraft sammeln konnte und er zeigte mir, wie ich meine Wut kanalisieren konnte.
Ich wurde nicht nur eine gute Boxerin, ich wurde die Beste.

Ich schloss meinen Nachbarn immer mehr ins Herz und auch er hatte mich lieb gewonnen. Es war zu meinem neuen Anker geworden, die Bezugsperson, dessen Rolle eigentlich meine Mutter hätte einnehmen müssen.

Er war da, wenn sie es nicht war und das bezog sich auf nun schon auf ganze zehn Jahre.

Er bemerkte meine Hämatome, die Kratzer und Prellungen und wie ich Schmerz erfüllt zusammen zuckte, sobald er mich in den Arm nahm. Zu meinem neunten Geburtstag, schenkte er mir ein Baumhaus, welches er in seinem Garten für mich gebaut hatte. Ich nutzte es, um mich vor Mutter zu verstecken, wenn sie wieder frustriert war.

Eines Abends, nahm er mich sogar zu seinem Lieblingsort mit, seiner eigenen Boxhalle. Der Ort, den ich mit dem zweitliebsten Mann in meinem Leben verband.

*

Nun stehe ich da, wieder ganz in Schwarz und von dem kalten Regen durchnässt.
"Olaf Herzig", stand verziert auf dem Grabstein.
"Liebevoller Vater, Opa, Uropa und Freund", folgen darauf.

Die Tränen trüben meine Sicht, sodass ich zunächst nur neben die Schaufel greife. Ich zittere am ganzen Leib zum einen, weil die Kälte mir bis in alle Gliedmaßen steckt, zum anderen, weil ich kurz davor stehe kraftlos zusammen zu brechen. Ich schaffe es meinen psychischen Schmerz zu überwinden, verstärke den Griff um die Schaufel und schütte einen Teil der Erde auf sein Grab.

Nach und nach verschwindet die Menge, bis auch die Letzte geht, doch ich bleibe. Ich bleibe solange bis die Tränen versiegen. Der Schmerz bleibt, vergiftet mein Herz.

Langsam schlendere ich an den anderen Gräbern vorbei und betrachte diese, doch nach kurzer Zeit beschließe ich nach Hause zu gehen, denn ich musste sieben Kilometer laufen, wofür ich gut anderthalb Stunden brauchen werde.
Darauf, dass Mutter mich abholt werde ich wohl verzichten müssen.

Ich krame in meiner kleinen Handtasche, um meinen Regenschirm heraus zu holen, doch etwas anderes kaltes wird von meinen Fingern erfasst.
Ich hole es heraus und betrachte es ein wenig. Das kühle Metal glänzt leicht, es grinst mich an, es ruft nach mir, verlangt nach mir.

Ich klappe das Messer aus und starre es fasziniert an. Die Hoffnung auf Ablenkung lässt mich einen falschen Entschluss ziehen.
Langsam krempele ich meinen Ärmel hoch und setze es an meine weiche Haut an. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie das Messer in meine Haut dringt.
Zunächst war es ein schmerzhaftes Brennen, doch schon nach kurzer Zeit hat es mich komplett von meinem seelischen Schmerz abgelenkt.

Es tut so gut einmal nicht an meine Mutter, Papa oder Olaf zu denken.
Wie in einer Art Trance drücke ich fester, sodass mir vereinzelt Blut den Arm hinab läuft. Es wurden immer mehr, ich verlor mich in all der Wut, all der Trauer und all dem Schmerz, bis ich gänzlich verloren ging.

Honey BadgerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt