Kapitel 13: Schrei

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Ich rannte durch die dunklen Straßen von New York. Ich konnte hören, dass er ganz nah hinter mir war. Ich rannte, den Anblick vor Augen, den ich mein Leben lang nie vergessen werde. Plötzlich stolperte ich und ein Arm hielt mich fest. Sein Arm. "Amy", flüsterte ich leise. Eine Hand schloss sich um meine Kehle. "AMY !" Ich schrie den Namen meiner Schwester, auch wenn ich wusste, dass es zu spät war. Er drückte zu.

Ich fuhr zitternd und in Angstschweiß gebadet aus dem Bett hoch. Wo war ich? Wo war Amy? War er hier? Ich dachte nach und ordnete meine Gedanken und Erinnerungen. Ganz ruhig, Avery! sagte ich mir. Du bist in Florenz in Sicherheit und er kann gar nicht hier sein, das weißt du. Genau wie Amy. Ich stand immer noch zitternd auf und ging ins Bad, wo ich mir ein Glas Wasser eingoss. Ich trank in schnellen Schlucken und sah mich dann im Bad um. Ich bemerkte, dass jemand hier gewesen sein musste, denn es hingen frische Handtücher am Handtuchhalter und es stand sogar neues neues rotes Haarfärbemittel neben der Dusche. Ich stellte mit vor, wie Rosa, das Dienstmädchen, für mich, Avery Swan, das Bad herrichtete. Eine bizarre Vorstellung. Ich sah meine Lederkleidung gewaschen und zusammengefaltet auf dem Badewannenrand liegen und zwei kleine Gegenstände daneben. Ich ging rüber und sah die Gegenstände genauer an. Es handelte sich offenbar um den Inhalt meiner Jackentasche,  der vor dem Waschen herausgenommen worden war.

Ein Kassenzettel und ein Foto.

Ich betrachtete das Foto. Es war das einzige Foto von mir das ich besaß und der einzige Gegenstand aus meinem alten Leben, bevor ich Killerin war. Auf dem Foto war ich vielleicht zwei Jahre alt und saß auf einer Wiese. Mein Haar war nicht dunkelrot, sondern braun, meine ursprüngliche Haarfarbe. Ich trug ein quitschgelbes Kleid und hatte eine Blumenkrone aus Gänseblümchen und Klee auf dem Kopf. Ich war irgendwie froh, dass das Foto nicht verloren gegangen war.

Ich merkte, dass mir Tränen in den Augen standen. Ich musste mich zusammen reißen, ich konnte nicht in Tränen ausbrechen und melancholisch werden nur weil ich ein verdammtes Kindheitsfoto sah. Ich musste mich von meinen Erinnerungen ablenken, also beschloss ich, den Palazzo di Lauro zu erkunden. Ich zog eine Strickjacke über das Nachthemd, das ich zum schlafen angezogen hatte und schlich auf den Flur hinaus. War das nicht Spionage? Mein Gewissen begann sich zu regen. Avery, du hast ein Gewissen? Wie praktisch für eine Mörderin. Und außerdem, niemand hat gesagt du musst in dem Zimmer bleiben.

Ich ging mit unentschlossen zum Aufzug, das Geschoss in dem ich mich befand schien zum Grosteil aus Schlafzimmern zu bestehen, das Erdgeschoss wirkte interessanter. Während ich mit dem Aufzug fuhr dachte ich über das, was Alessandro zu mir gesagt hatte nach. Dass ich alles zurücklassen könnte und ein neues Leben anfangen. Konnte ich das? Alle meine Schuld zurücklassen und eine von den Guten werden? Konnte man so viel Schuld einfach hinter sich lassen? Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als der Aufzug hielt. Die goldene Tür öffnete sich und ich verließ leise den Aufzug.

Es war dunkel aber in dem Raum, in dem wir gegessen hatten brannte Licht und ich konnte Stimmen hören. Ich schlich auf den Raum zu. Die Tür war angelehnt und Licht drang durch den Spalt hervor. Ich presste mich an die Wand und lauschte. Ich verachtete mich zwar dafür aber meine Neugier siegte.

"Bist du dir ganz sicher, Daniel? Ich kann das kaum glauben", hörte ich Alessandros Stimme. Er klang beunruhigt. Daniel räusperte sich. "Es ist aber so, ich habe den Gefangenen gefragt, gegen wen der Angriff auf dem Flugplatz gerichtet war und er hat geantwortet "Avery Swan""

Es dauerte einige Sekunden, bis seine Worte zu mir durchgesickert waren. Dann begann ich heftig zu zittern und begriff. Es passierte wieder. Jemand machte mich zum Opfer und wollte mich töten. Das letzte mal, als das passiert ist, habe ich alles bis auf mein Leben verloren. Das letzte mal wurde ich Täterin, um nie wieder Opfer sein zu müssen. Ich wollte rennen, aber ich konnte nicht, ich hatte keine Kontrolle über meine Füße. Ich hörte einen lauten Schrei. Ich sah mich panisch nach dem Schreienden um, bis ich bemerkte, dass es mein eigener Schrei war.

Die Tür öffnete sich und Alessandro und Daniel kamen heraus. "Ganz ruhig" Alessandro machte einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. "Fass mich nicht an!", keuchte ich zitternd. "Ganz ruhig, keiner wird dir was tun. Dieses Haus ist eines der sicherten in ganz Italien, hier kann dir nichts passieren. Setz dich einfach zu uns und wir erklären dir alles, ok?", redete Alessandro beschwörend auf mich ein. Seine Worte prallten an mir ab bis auf eins. Erklären. Erklären war immer gut, wenn ich die Lage kannte war ich ihr auch nicht wehrlos ausgeliefert.

Ich folgte Alessandro und Daniel in den Raum und setzte mich immer noch zitterig auf einen Stuhl ihnen gegenüber. "Also", begann Daniel und schenkte sich ein Glas Wein ein. "Die Carnevares haben von den Typen, die euch angegriffen haben einen wie du weißt getötet, einer ist leider entkommen und einen haben sie gefangen genommen. Den haben sie dann verhört und er war glücklicher Weise sehr bereit, zu reden um seine Haut zu retten. Also haben sie ihn gefragt, wer er ist und für wen er arbeitet. Er hat erzählt, er sei ein Söldner aus Palermo und er arbeite für Silvio Falcone. Wir sind dann natürlich davon ausgegangen, dass der Angriff gegen Alessandro und Riccardo gerichtet war, weil die di Lauros und die Falcones schon ewig verfeindet sind. Aber als wir ihn weiter über seinen Auftrag befragt haben, wurde sehr schnell klar, dass der Angriff eigentlich gegen dich gerichtet war und dass die drei schon seit einem Monat an dir dran waren. Und dann haben wir uns natürlich gefragt, weshalb sollte Falcone dich umbringen? Wir hatten die Idee, dass du vielleicht bei einem deiner Aufträge einen seiner Männer getötet hast, aber als wir das überprüft haben, haben wir festgestellt, dass seit vier Jahren keiner von Falcones Männern in New York umgekommen ist."

"Also brauchten wir mehr Informationen über dich. Deswegen haben wir dich nach deiner Vergangenheit gefragt. Tut mir leid, wenn das zu viel für dich war, ich wollte wirklich nicht-", fing Alessandro an.

"Nein schon gut.", unterbreche ich ihn. "Ich bin Teams, Gruppen und Zusammenarbeit zwar nicht so gewöhnt, aber das wichtigste ist glaube ich, dass man ehrlich zu einander ist. Ich verstehe, wieso ihr meine Geschichte kennen müsst, also versuche ich, sie euch zu erzählen." Ich versuche, stark zu klingen, aber es machte mir entsetzliche Angst, diese Geschichte zu erzählen. Weil ich die letzten zwei Jahre damit verbracht hatte, vor ihr davonzulaufen.

"Also", begann ich mit bebender Stimme. Ich bin Avery Swan aus New York und so bin ich zur Mörderin geworden:"

Don't Mess With The MafiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt