Kapitel 14: Avery's Geschichte

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"Ich lebte  die ersten dreizehneinhalb Jahre meines Lebens in einer kleinen Wohnung in Manhattan mit meinen Eltern Linda und John Swan und meiner zwei Jahre älteren Schwester Amy.

Mein Vater war Feuerwehrmann und meine Mutter arbeitete als Kassiererin. Wir waren nicht reich oder so etwas, aber wir hatten alles, was wir brauchten." Ich stockte ein wenig, als die schon viel zu lange Verdrängten Erinnerungen über mich hereinbrachen. Geburtstage, Weihnachten, der ganz normale Alltag, den ich am meisten vermisste. Weitermachen, Avery!, befahl ich mir selbst.

"Ich und Amy besuchten die Westmore Elementary School, dann die Eversdale Middle School und Amy kam dann an die Westgrove High School.

Ich war in der Schule im Theaterkurs und im Winter hat Amy mich immer nach der Probe abgeholt, weil es schon ganz dunkel war. Und als ich dreizehn war und sie mich abgeholt hatte und wir in die Wohnung gingen, war alles zerstört und" Ich stockte, als das Bild wieder vor meinen Augen aufblitzte.

"Er hatte alles zerstört", setzte ich neu an. "Die Vorhänge waren zerrissen und die Möbel waren umgeworfen. Und...underhattemeinemuttererschlagenundmeinemvaterdiekehledurchgeschnitten." Ich stieß die letzten Worte in einem Atemzug hervor, weil ich es nicht aushielt, sie länger im Mund zu haben.

Alessandro sah mich beklommen an, aber Daniel sah einfach nur verwirrt aus.

"Sorry, was hast du grade gesagt. Das war bisschen zu schnell"

"Er hatte ihre Eltern getötet", erklärte Alessandro Gott sei Dank, sodass ich es nicht noch einmal aussprechen musste.

"Oh mein Gott, das tut mir leid!", sagte Daniel erschrocken. "Wer war er eigentlich?", fragte er dann.

Ich holte Luft und erzählte mit leiser Stimme weiter.

"Er war nicht mehr da, aber er hatte ein Messer hinterlassen. Ich habe es aus irgendeinem Grund eingesteckt. Wir waren erstmal total geschockt und entsetzt, dann hat Amy irgendwann die Polizei gerufen und die haben die Wohnung gesperrt und uns in ein Heim gebracht. Der Fall wurde Polizeilich Untersucht, aber nie aufgeklärt. In New York passiert viel und wenn du nicht reich und mächtig warst, ist es für die Polizei auch nicht so tragisch, wenn du abgestochen wirst." Meine Stimme bekam einen bitteren Unterton, wenn ich daran dachte.

"Und einen Monat später begang Amy im Heim Selbstmord. Sie konnte den Vorfall einfach nicht ertragen. Und ich konnte das Mitleid, mit dem mich alle behandelten nicht ertragen. Sie sagten, sie wüssten, wie ich mich fühle und ich sollte den Kopf nicht hängenlassen, sondern mir ein neues Leben aufbauen.

Woher sollten sie denn wissen, wie ich mich fühlte? Ich lief also weg und ein alter Taschendieb namens Butch fand mich. Ihm wurde schnell klar, das ich nirgendwo hinkonnte, also sagte er, ich könne in seiner Wohnung auf der Couch schlafen, wenn ich ihm "bei der Arbeit" helfe.

Er brachte mir alle Taschendieb-Tricks bei und wir arbeiteten meistens im Team. Ich habe die Leute meistens angeredet und herausgefunden, wo sie ihren Geldbeutel haben und Butch hat ihnen dann die Wertsachen aus der Tasche geangelt.

Butch war ein netter witziger Typ und obwohl ich immer noch relativ fertig war, ging es mir zu dieser Zeit wieder etwas besser. Es gibt einige ganz nette Taschendiebe und Kleinkriminelle.

Ich lebte ungefähr ein halbes Jahr bei Butch und ich habe in dieser Zeit wirklich einiges gelernt. Ich wurde schneller und stärker und ich habe auch gelernt, wie man sich verteidigt. Es haben zwar weder Butch noch ich den Leuten, die wir ausgeraubt haben etwas getan, aber Butch meinte, man sollte sich wehren können als junges Mädchen in der Kleinkriminellen Szene in New York.Jedenfalls saß ich an einem Abend in einer Bar als-" Ich holte wieder Luft und überlegte einen Moment, was passiert wäre, wenn ich an jenem Abend nicht in diese Bar gegangen wäre. Dann hätte ich einiges nicht mitmachen müssen, dann hätte ich nie jemanden getötet und wäre nicht Bloody Mary geworden. Aber dann wäre ich jetzt auch nicht in Florenz, sondern in irgendeiner kleinen schmuddeligen Wohnung in New York vermutlich mit Butch.

Ich hätte Alessandro di Lauro nie getroffen. Und einen irrwitzigen Moment lang, glaubte ich froh zu sein, dass ich an jenem Abend in die Bar gegangen war.

"In der Bar saß ein Mann, vielleicht dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, der mich immer wieder ansah. Nicht gerade angenehm ansah, es war ziemlich gruselig. Dann kam er irgendwann zu mir rüber und fragte mich, ob er sein Messer wieder haben könne. Das Messer, dass ich an diesem Abend dabei hatte, war das Messer, das in der Wohnung meiner Eltern von dem Mörder zurückgelassen worden war. Ich habe ihn erst eine gefühlte Ewigkeit angestarrt, dann habe ich es erst begriffen und er lächelte nur, als er merkte, dass ich es verstanden habe. Dann habe ich vollkommen aus Reflex gehandelt und ohne darüber nachzudenken, stieß ich ihm das Messer in den Bauch. Ich habe vermutlich irgendeine Arterie oder ein Organ getroffen, denn er ist umgefallen wie ein gefällter Baum.und hat sich nicht mehr gerührt. Ich habe mich gefühlt, als wären meine Gedanken taub geworden. Ich habe nichts gefühlt und nichts gedacht und bin einfach aus der Bar gerannt. Ich saß an der Straße und wollte weinen, aber ich konnte nicht. Eine Frau, die in den Bar gewesen war und alles gesehen hatte, sprach mich an und fragte, ob ich für Geld jemanden für sie töten könnte. Sie musste mich für eine professionelle Killerin gehalten haben. Ich habe keine Ahnung mehr warum, aber ich nickte und nahm an. Und damit hatte ich dann im Prinzip mein Schicksal besiegelt. Die Frau hatte noch fünf weitere Aufträge für mich und ich nahm mir eine billige Wohnung über einer schmutzigen Kneipe. Ich habe Butch nie wieder gesehen, eigentlich Schade, ich verdanke ihm sehr viel. Am Anfang war das ständige Töten noch sehr schwer, ich hatte Albträume und weinte ziemlich viel. Aber ich glaubte, dass ich jetzt für nichts anderes mehr gut genug war, weil ich schon eine Mörderin war. Ich war eine gute Killerin, weil ich als Taschendiebin viel gelernt hatte und mit der Zeit wurde das Töten leichter, ich machte mir einen Namen und kaufte neue Waffen. Ich wurde unter dem Namen Bloody Mary bekannt und das wäre ich immer noch, wenn ich nicht eines Tages den Auftrag angenommen hätte, Alessandro di Lauro umzubringen."

Meine Stimme war nur noch ein kraftloses krächzen. Ich bemerkte, dass mir heiße Tränen die Wangen runterliefen. Das war das erste Mal, dass ich jemandem diese Geschichte erzählt habe und das erste Mal, dass ich mir selbst erlaubt hatte, daran zu denken. Ich versuchte gar nicht erst, das Weinen zurückzuhalten, sondern ließ mich gehen und brach in lautes Schluchzen aus. Ich vermisste meine Eltern und ich vermisste Amy und ich vermisste Butch. Ich vermisste den ganz normalen Alltag eines Amerikanischen Teenagermädchens und ich vermisste es, unschuldig zu sein. Aber ich konnte es nie wieder rückgängig machen, was ich getan hatte. Ich spürte, wie mich jemand umarmte und machte die Augen auf, um festzustellen, dass es Alessandro war. Zu meiner Überraschung stieß ich ihn nicht weg und schreckte vor dem Körperkontakt zurück, sondern ich klammerte mich an ihm fest und atmete seinen Geruch ein. Er roch nach Meer und Rasierwasser, was weitaus besser roch, als es klingt.

Und was noch ungewohnter war, in diesem Moment  fühlte ich mich vollkommen sicher.

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