Kapitel 15

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„Harry? Harry, bist du das?"

„Jaha, ich bin's!" Langsam öffnete Harry seinen Mantel und ließ ihn nach einem Blick auf die Garderobe wieder einmal auf den Boden fallen. Dann bückte er sich, um seine Stiefel ebenso langsam zu öffnen. Am liebsten würde er die bevorstehende Begegnung mit Ginny so weit wie möglich hinauszögern, denn sein Vorhaben lag ihm wie ein Stein im Magen. Als er sich aber wieder aufrichtete, lehnte Ginny bereits mit gekreuzten Armen im Türrahmen und sah Harry mit zusammengezogenen Brauen an. „Du bist früh zu Hause."

„Ich weiß." Harry schluckte und biss sich auf die Lippe, ehe er tief durchatmete. Er war siebenunddreißig, verdammt! Er hatte drei Kinder, immer wiederkehrende Rückenschmerzen und einen langweiligen Schreibtischjob, da sollte er doch in der Lage sein, ein Gespräch mit seiner Ehefrau zu führen. Mit seiner Schulhofliebe, die er seit sechsundzwanzig Jahren kannte. Wieso also fühlte es sich an, als hätte er einen Stein verschluckt, der ihm nun so schwer im Magen lag, dass er das Gefühl hatte, er würde ihm die Luft abdrücken. „Ja, ich weiß", wiederholte er leise und konnte sich nur im letzten Moment davon abhalten, die Arme um sich selbst zu schlingen. „Ich wollte mit dir reden."

Einen Moment lang sah Ginny ihn regungslos an, dann stieß sie lautstark die Luft aus und nickte knapp. „Ja. Ja, ich glaube, das wird Zeit." Fahrig strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Lass mich nur eben-" Sie deutete die Treppe hinauf. „Ich muss noch eben diesen Artikel-"

„Ja klar", beeilte Harry sich zu nicken. „Ich geh solange in die Küche und mach Tee."

„Gut, dann-" Unruhig wischte Ginny ihre Handflächen an ihrer Hose ab, eine Geste die Harry lange nicht mehr an ihr gesehen hatte.

„Ja." Harry nickte und biss sich auf die Lippe. „Ist Lily zu Hause?"

„Nein, sie ist jetzt doch mit Anne auf die Weihnachtsfeier gegangen." Anne war Lilys beste Freundin aus der Schule und so pferdeverrückt, dass Harry und Ginny fürchteten, sie würde Lily noch damit anstecken, ehe sie nach Hogwarts käme. Bisher aber fand Lily Pferde weiterhin stinkig und langweilig, wie sie sagte – umso erstaunlicher, dass sie sich hatte überreden lassen, Anne auf die Weihnachtsfeier ihres Reitvereins zu begleiten.

„Okay." Harry nickte wieder und deutete auf die Küche. „Ich geh dann mal."

In der Küche stützte Harry sich auf die Arbeitsplatte und atmete zitternd durch, ehe er den Wasserkocher füllte. Mechanisch griff er nach zwei Teebechern, zog die Teebeutel aus der Dose und starrte auf den Wasserkocher, bis der Schalter zurück sprang und Harry den Tee aufgießen konnte. Wie hypnotisiert starrte er auf den aufsteigenden Dampf, bis es Zeit war, die Beutel wieder herauszunehmen. Nachdem Draco ihn am vergangenen Abend nach Hause gebracht hatte, hatte Harry die halbe Nacht vor dem Kamin gesessen und über Dracos Worte nachgedacht. Er hatte an seine Kinder und Ginny gedacht. Daran, wie verliebt sie gewesen waren und wie perfekt ihnen ihr neues Leben in Frieden erschienen war. Mit den Jahren hatte sich das geändert. Die Kinder waren auf die Welt gekommen, Ginny hatte ihren Job als Trainerin aufgegeben, um mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können, Harry hingegen war befördert worden und hatte mehr und mehr Zeit im Ministerium verbracht. Neues war alltäglich geworden und je mehr Zeit vergangen war, desto gefangener hatte Harry sich in seinem Leben gefühlt. Er konnte nicht mehr sagen, wann er dieses Gefühl zum ersten Mal gehabt hatte. Er wusste nur, dass es größer und größer geworden war, bis es sich dunkel bedrohlich zwischen ihm und Ginny aufgetürmt hatte. Wie eine Mauer hatte es zwischen ihnen gestanden und je länger Harry darauf gestarrt hatte, desto weniger hatte er geglaubt, jemals mit Ginny darüber sprechen zu können. Erst als er in der vergangenen Nacht kein Auge hatte zu tun können, war ihm der Gedanke gekommen, dass es Ginny möglicherweise ebenso erging. Wieso hatte es so lange gedauert, das zu erkennen? Wann war er so blind geworden?

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