Kapitel 22

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Es war eine sternklare Nacht. Die Sterne hoch oben am Himmel waren zu zahlreich um sie zu zählen, und der Halbmond tauchte die ganze Welt in ein blasses Licht, das ihr alle Farbe entzog. Trotz der späten Stunde war der Pfad vor ihnen hell erleuchtet, so dass Harry und Draco auch ohne die Hilfe ihrer Zauberstäbe den richtigen Weg fanden. Schulter an Schulter überquerten sie die nächtlichen Ländereien. Kein Windhauch regte sich und außer ihren Schritten und ihren leisen Atemzügen war nichts zu hören. Harry fühlte sich noch immer benommen und konnte nichts anderes tun, als schweigend neben Draco her zu gehen, und während die dunkle Silhouette des Schlosses vor ihnen größer und größer wurde, hatte er endlich das Gefühl, genau dort zu sein, wo er hin gehörte. Hogwarts war sein erstes Zuhause gewesen und trotz all der Dinge, die hier passiert waren, war dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit niemals verschwunden. Und nun hatte er Draco an seiner Seite und das machte alles noch so viel besser.
Tief in Gedanken versunken lauschte Harry auf das gleichmäßige Pochen seines Herzens und Dracos gleichmäßigen Atem, der in kleinen Wölkchen in der kalten Winterluft hing. Sein Kopf und sein Herz waren so voll und doch so leicht. Da war nichts schweres oder niederdrückendes in Dracos Gesellschaft. Jede Stunde, jede Minute mit ihm fühlte sich an wie das Natürlichste der Welt und in seiner Gegenwart schien plötzlich alles möglich.

Nicht ein ein einziges Wort war zwischen ihnen gefallen, seit sie das Restaurant verlassen hatten. Ein Blick, ein Lächeln, eine flüchtige Berührung reichte aus, machte jedes Wort überflüssig, bis sie schließlich Dracos Räume erreichten.

„Du kommst noch mit rein, oder?" Dracos Stimme war leise und rau, ebenso unwirklich wie der gesamte Abend, so dass Harry nickte, noch ehe er überhaupt über die Frage nachgedacht hatte.

Sie hatten kaum einen Fuß durch die Tür gesetzt, als unzählige Fackeln auf einmal zum Leben erwachten und alles hell erleuchteten. Geblendet kniff Harry die Augen zusammen, während Draco ein unzufriedenes Geräusch von sich gab und seinen Zauberstab in einer schnellen Bewegung einmal im Kreis bewegte. Die Hälfte der Fackeln erlosch wieder und zurück blieb ein sanftes Dämmerlicht. Wie auch die Kerzen im Restaurant malte es tiefe Schatten auf Dracos Gesicht und ließ seine Haut schimmern. Hier in der Abgeschiedenheit des Kerkers konnte Harry sich nicht länger zusammenreißen. Wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen streckte er eine Hand aus, strich mit den Fingerspitzen über Dracos Wange, erkundete die scharfen Konturen seines Kiefers, fuhr mit dem Daumen über Dracos Wangenknochen. So lange, bis Draco Harrys Hand mit seiner eigenen umschloss und von seinem Gesicht nahm.

„Nicht", flüsterte er kaum hörbar und doch so laut, dass Harry zusammenzuckte und versuchte, seine Hand aus Dracos zu ziehen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er wollte die Augen schließen, weg rennen, diese unbedachte Berührung rückgängig machen. Aber Draco hielt seine Hand noch immer fest, umklammerte sie mit seiner eigenen und hielt Harry auf diese Weise eisern an Ort und Stelle.

„Nicht", wiederholte er und strich mit den Lippen über Harrys Handfläche. Harry gefror an Ort und Stelle und starrte Draco unbeweglich an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Atem schien von den nackten Steinwänden widerzuhallen. Er konnte nicht denken, nicht sprechen.

„Ich mag dich, Harry." Wieder küsste Draco seine Handfläche. Warm und sanft und versprechend. „Sehr sogar." Dieses Mal fuhr er mit dem Daumen über Harrys Hand, zeichnete die Linien und Narben darauf nach. „Und ich glaube, es geht dir genauso. Aber du hast dich gerade von deiner Frau getrennt und dein halbes Leben aufgegeben und-" Hilflos brach er ab und zum ersten Mal erkannte Harry, wie unsicher Draco war. Seine Hände zitterten, seine Augen waren weit aufgerissen und die Pupillen so geweitet, dass sie nahezu alles Grau vertrieben. Noch nie waren Dracos Augen so dunkel gewesen.

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