Kapitel 26

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Tief durchatmend schloss Harry seine Bürotür hinter sich und griff nach seinem Zauberstab, um sie nicht nur abzuschließen, sondern auch für jeden völlig uninteressant wirken zu lassen, der in den kommenden Stunden hier vorbeikommen würde.

Es war Mittagszeit, und während ein Großteil der Ministeriumsangestellten nun in die Winkelgasse ausströmte, auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit, brauchte Harry nun Ruhe und Zeit. Zeit, endlich einen Blick in Cunninghams Akte zu werfen. Seit Tagen schon lag sie versteckt unter einem großen Haufen Papierarbeit auf seinem Schreibtisch, und jedes Mal, wenn er sie hatte öffnen wollen, war etwas dazwischen gekommen. Nun aber hatte er sich so sehr abgeschottet, wie er es verantworten konnte, und pustete sich die Haare aus der Stirn, während er die erste Seite aufschlug.

Bald schon vergrub Harry stöhnend das Gesicht in den Händen und zog frustriert an seinen Haaren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Aber er kam einfach nicht darauf, was es war! Irgendetwas nagte an ihm, und die Erkenntnis war zum Greifen nahe. Er musste sich nur konzentrieren. Er atmete tief durch, blätterte zurück auf die erste Seite und begann zum wiederholten Mal Cunninghams Akte zu lesen. Das hatte er mittlerweile so oft getan, dass er jedes einzelne Wort auswendig konnte. Und doch gab es etwas, das er nicht verstand. Nur was? Was war es? Schneller und schneller blätterte er die Akte durch. Noch mal und noch mal, bis es ihm endlich ins Auge sprang.

„Da fehlt eine Seite!"

Wie hatte ihm das entgehen können?

Seit dem Sieg über Voldemort hatte das Ministerium begonnen, Akten zu jedem einzelnen Zauberer in Großbritannien anzulegen. Unabhängig davon, ob sie Hogwarts besuchten, eine andere Zaubererschule oder sich entschieden, in der Muggel-Welt zu bleiben, enthielten diese Akten standardmäßig Informationen zu Geburtsdatum und -ort, zur Familie und zur Ausbildung. Zusätzlich enthielt die Akte eines jeden Zauberers, der sich längere Zeit unter Muggeln aufgehalten hatte, eine Extraseite, die seine Aktivitäten außerhalb der Zaubererwelt auflistete. Laut der ersten Seite hatte Cunningham eine Muggelschule besucht – und doch fehlte diese Extraseite. Wohin war sie verschwunden? Was hatte Cunningham in den Jahren zwischen seinem Abschluss und seiner Anstellung als Lehrer getan? Was war es wert, diese Seite aus seiner Akte zu entfernen? Was hatte Cunningham zu verheimlichen?

Entschlossen sprang Harry von seinem Platz auf und griff nach seinem Mantel. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Es war lange her, dass er mit den Muggel-Behörden zu tun gehabt hatte, aber Harry war sich sicher, noch alles wichtige zu wissen. In der Telefonzelle auf dem Weg nach oben strich er einmal mit dem Zauberstab über seine Kleidung, und als er nur wenige Momente später auf die Straße trat, war er in einen schlichten schwarzen Anzug gekleidet. Ordentlich, aber ebenso billig und schlecht sitzend wie seine Auroren-Uniform. Genau so, wie es sein sollte. Dazu kamen ein gefälschter Ausweis und ein ebenso falscher Gerichtsbeschluss, von dem Harry inständig hoffte, dass er einer Inspektion standhalten würde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal solche Dokumente hatte anfertigen müssen, und wusste nicht, ob noch immer die gleichen Standards und Anforderungen galten wie damals, als er diesen speziellen Zweig der Verwandlung während seiner Ausbildung erlernt hatte.

Harry hatte Glück und niemand zweifelte sein Recht auf Information an. Dennoch brauchte es viele und langwierige Diskussionen, bis Harry endlich die gesuchten Informationen in der Hand hielt und sich damit in einem Café an einen Tisch fallen ließ. Seufzend strich er sich die Haare aus der Stirn und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, ehe er begann die zu klein geschriebenen Zeilen mit zusammengekniffenen Augen zu überfliegen.

„Scheiße!"

Da war er, der Grund, weswegen diese eine Seite aus Cunninghams Akte verschwunden war. Vor acht Jahren hatte er einen Mann auf offener Straße angegriffen, so dass er von Rettungskräften ins Krankenhaus hatte gebracht werden müssen. Was Harry jedoch stutzen ließ, war nicht die Gewaltbereitschaft Cunninghams, sondern der Name des Opfers: Gregory Goyle. Er war spurlos aus der Notaufnahme verschwunden, ehe er hatte behandelt werden können, weswegen es nie zu einer Verurteilung gekommen war. Nur drei Jahre später war Thorfinn Rowle durch eine Schusswaffe mit Cunninghams Fingerabdrücken darauf lebensgefährlich verletzt worden. Dieses Mal war nicht nur das Opfer, sondern auch Cunningham spurlos von der Bildfläche verschwunden. Bis heute wurde Cunningham per Haftbefehl gesucht, doch natürlich hatte ihn seither kein Muggel mehr zu Gesicht bekommen. Und es war nicht schwer, das Muster hinter diesen Angriffen zu erkennen. Cunningham befand sich auf einem persönlichen Feldzug gegen freigesprochene Todesser. Gegen solche, die sich nach dem Krieg zurückgezogen und sich nichts mehr zu Schulden hatten kommen lassen. Gegen solche wie Draco.

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