Kapitel 19

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„Also-" Harry senkte den Blick und scharrte mit den Füßen über die gefrorene Erde. „Das ist es, oder? Das hier ist das Ende."

„Ja, das ist es."

Harry schluckte hart und blinzelte heftig. Seine Augen brannten und die Luft schien nicht mehr auszureichen, um seinen Körper am Leben zu halten. Das hier. Das alles. Es war einfach- Es war zu viel. Viel zu viel. Wie sollte es von jetzt an weitergehen? Wie sollte er weiter leben?

„Harry?"

„Ja?"

„Bist du sicher, dass du-"

„Ja." Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich-" Er atmete tief durch und hob endlich den Blick. In Ginnys Augen spiegelten sich eben jene Gefühle, die in seinem Inneren tobten. Angst, Trauer, Verzweiflung. Hoffnung.

„Tut mir Leid. Ich weiß, das hier ist, was wir wollten. Es ist nur-"

„Ich weiß."
Und dann war Ginny bei ihm. Ihre Arme um seinen Nacken, ihr Körper an seinem, ihre weichen Haare in seinem Gesicht.

„Es tut mir so Leid, Harry", flüsterte sie. „Ich wünschte-" Sie zitterte und Harry drückte sie augenblicklich fester an sich. „Ich hab mir so gewünscht, wir würden es schaffen."

„Ja." Harry Stimme war rau und kratzig und brannte ebenso wie seine Augen. „Ja, ich auch." Er biss die Zähne zusammen und drückte seine Nase an Ginnys Hals.
Mit geschlossenen Augen drückten sie sich aneinander, hielten einander fest, trotzten dem eisigen Winterwind.
Gestern erst hatte das Schuljahr wieder begonnen und heute würde Harry ausziehen. So hatten sie es besprochen.

Er hatte gedacht, er würde erleichtert sein, endlich einen klaren Schlussstrich ziehen, die endlosen Streitereien und und das angespannte Schweigen hinter sich lassen zu können. Doch alles, woran Harry nun denken konnte, waren Ginnys Lachen, ihre Lippen, ihre Augen, ihre Hände. Er würde sie nie wieder küssen, nie wieder ihre weiche Haut berühren, nie wieder ihren nackten Körper unter sich haben, über sich, in seinen Armen, mit ihrer Nase an seiner, während ihr Atem sich vermischte. Sie war seine Vertraute und er stieß sie von sich, sprang alleine ins Ungewisse.

„Harry."

„Ginny."

„Alles wird gut, oder?"

Harry lachte angespannt und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, ehe er sich vorsichtig von Ginny löste. „Ich hoffe es." Er atmete so tief durch, wie er nur konnte. Dann gab er Ginny einen letzten Kuss auf die Wange. Weich wie Seide und warm trotz des beißenden Windes.

„Auf Wiedersehen, Ginny."

Ein leises Schluchzen schüttelte ihren Körper und eilig presste sie beide Hände auf den Mund. Mit klopfendem Herzen wartete Harry, bis sie ihre Haltung wieder löste.

„Auf Wiedersehen, Harry."

Dann drehte sie sich ruckartig um und rannte mit wehenden Haaren zurück ins Haus. Das Haus, das die letzten zwölf Jahre sein Zuhause gewesen war, und in dem er bald ein Fremder sein würde. Regungslos stand Harry am Gartentor und sah auf die überrankten Backsteine. Er blickte hinauf zu Als Zimmer, auf dessen Fensterbrett der kleine Drache getreu auf und ab lief und immer wieder kleine Rauchwolken in die Luft stieß. In den unteren Fenstern fielen noch immer die Schneeflocken, die Lily und Molly gezaubert hatten. Tränen traten in Harrys Augen und liefen langsam über seine Wangen, ohne dass er auch nur versuchte, ihnen Einhalt zu gebieten. Der Wind zog an seinen Haaren, zerrte an seinem Mantel und ließ ihn am ganzen Körper zittern, und doch blieb Harry stehen, bis er das Gefühl in Füßen und Fingerspitzen verlor. Dann erst drehte er sich mit hängenden Schultern herum und lief langsam die Straße hinab. Mit jedem Schritt wurde das Haus hinter ihm kleiner und als er sich das nächste Mal umdrehte, war es hinter Hecken und Bäumen verschwunden.

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