Kapitel 6

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Der Vormittag verlief genauso wie ich es erwartet hatte. Mein Vater und ich saßen schweigend in der Küche. Er trank zwei Tassen schwarzen Kaffee und starrte unentwegt aus dem Fenster, während ich auf meinem Toast herumkaute, als wäre es ein Stück zähes Fleisch. Würde das von jetzt so sein, dass wir uns nichts mehr zu sagen hatten? Nicht das wir uns vorher viel zu sagen gehabt hatten, aber so gar nichts mehr? Störte mich das? So komisch es auch war, aber ja, es störte mich. So sollte es zwischen Eltern und ihren Kindern einfach nicht sein. Wenn ich am nächsten Tag abreiste, dann mit der Absicht nie mehr wieder zu kommen. Wollte er das wirklich? Wollte er so mit seinem einzigen Kind auseinander gehen? Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, aber ich traute mich nicht auch nur eine davon auszusprechen. Eine kleine Stimme in meinem Kopf warnte mich davor, denn sie war sich sicher, dass er nur mit Vorwürfen um sich werfen würde, wenn er denn überhaupt antwortete. Wahrscheinlich würde er mir auch die Schuld am Tod meiner Mutter geben und diesen Schuh wollte ich mir nicht anziehen. Der passte mir auch gar nicht, war viel zu groß.

„Wann kommt Francis", durchbrach mein Vater aus heiterem Himmel die Stille und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.

Wir waren zum Mittagessen mit Francis und ihrer Familie verabredet. Im Gegensatz zu mir würden sie noch bis zur nächsten Woche bleiben, hatten sich aber aus Rücksicht auf meinen Vater in einem Hotel einquartiert.

„Sie kommen um halb zwölf vorbei, um uns abzuholen", erwiderte ich und er nickte nur, war geistig schon längst wieder woanders.

Natürlich hätten wir auch mit dem Wagen meines Vater fahren können, aber Francis und Clinton hatten sich für ihren Aufenthalt einen Wagen gemietet und versichert, dass unser Haus doch auf dem Weg lag. Das stimmte nicht, aber ich hatte nicht widersprechen wollen. Sie hatten einen Tisch im The Olde Pink House in Savannah reserviert und ich freute mich schon auf den Besuch dort, denn ich war noch nie in diesem Restaurant gewesen. Von Kritiken im Internet wusste, dass man das Haus auch besichtigen konnte. Und genau das wollte ich unbedingt noch tun, vielleicht zusammen mit Fiona, damit sich die anderen drei in Ruhe unterhalten konnten.

Als ich meinen Toast gegessen und den Kaffee getrunken hatte, spülte ich das Geschirr kurz ab und stellte es in die Spülmaschine. Nach einem letzten Blick auf meinen Vater ging ich hinauf in mein Zimmer. Um mich ein wenig abzulenken wollte ich meine Tasche packen. Viel wollte ich ja nicht mitnehmen, denn alles Wichtige hatte ich ja vor zehn Jahren schon gepackt. Ich setzte mich auf den Boden und räumte die Tasche aus, legte alles auf einen Stapel neben mich. Die Schmutzwäsche stopfte ich in einen Beutel und legte diesen erst einmal auf dem Bett ab, denn ich brauchte ihn später noch. Das BuchStolz und Vorurteil lag schon auf dem Boden neben der Tasche und ich packte es in eine Seitentasche. Was noch? Ach ja, im Kleiderschrank...

Mein Herzschlag beschleunigte sich schon bei dem Gedanken an den Inhalt des Kartons, der mutterseelenallein im Schrank stand. Langsam erhob ich mich und ging auf den Kleiderschrank zu. Mit zitternden Händen öffnete ich die Schranktür und schaute nach oben zu der Ablage, von wo aus mich der weiße Schuhkarton zu verhöhnen schien. Darin waren die Notizbücher, die mir als Tagebücher gedient hatten. Ich hatte sie selbst in diesen Karton getan, als ich alles Wichtige für meinen Umzug nach Washington einpackte. Damals hatte ich sie ganz hinten im Schrank versteckt, hinter alten Klamotten, die ich nicht mitnehmen wollte. Erst bei meinem Umzug nach London hatte ich den Schrank komplett leer geräumt und alles was ich nicht mehr wollte und brauchte weggeworfen. Den Schuhkarton hatte ich eigentlich mitnehmen wollen, aber am Ende dann doch vergessen. Anfangs hatte ich meine Mutter darum bitten wollen, sie mir nachzuschicken, aber dann hatte ich den Gedanken verworfen, denn ich wollte nicht, dass sie in meinen Tagebüchern herumschnüffelte. Wahrscheinlich hätte sie sie eher weggeworfen oder in unserem Kamin verbrannt anstatt mir zu schicken, wenn sie gelesen hätte, was ich dort alles über ihren Bruder geschrieben hatte.

Peinlich BerührtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt