🔱Sechsunddreissig🔱

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Jungkook

Yoongis Zigaretten-Ende ist einen kurzen Moment lang das Einzige, was die Nacht um uns herum etwas erhellt und mir einen Blick auf seine weichen, blassen Gesichtszüge schenkt. Ich sehe den Älteren an, der tief an der Kippe zieht, sie dann wieder von den Lippen nimmt und genauso tief auch wieder ausatmet.

Es ist mitten in der Nacht und vermutlich werde ich dies hier in ein paar Stunden auf der Arbeit sicherlich bereuen, weil ich müde sein werde, aber jetzt gerade ist es mir das wert. Nachdem Taehyung das Bild fertig gesprayt hat und ich ihm diese Frage gestellt habe, hat sich irgendetwas in ihm verändert. Die Resignation und Distanz, die er immer an den Tag gelegt hat, ist einer Traurigkeit gewichen, die mich beinahe mitgerissen hat.

Es war, als würden riesige, dunkle Wellen über dem Kopf des Rothaarigen Punks zusammenbrechen, ihn hinunter auf den Grund eines endlos weiten Meeres ziehen und ihn dort qualvoll ertrinken lassen an der Trauer, die ihn beherrscht hat. Vielleicht denkt er, ich habe es nicht kapiert, aber ich habe die Tränen im Schein der Strassenlaterne gesehen, die in seinen Augen geglitzert haben. Es hat mir im Herzen weh getan, das zu sehen. Ihn so zu sehen.

Er scheint niemals zu zeigen, wie es ihm geht, aber mit dieser einfachen Frage, die ich aus purer Neugierde gestellt habe, habe ich einen grösseren Einblick auf seine Emotionen erhalten, als mit jeder Minute, die ich sonst mit ihm verbracht habe. Es war denkbar einfach und nur dieses eine Mal wollte ich nicht wirklich etwas aus ihm herausbekommen, sondern einfach wissen, ob er tatsächlich nichts in seinem Leben bereut.

Er war ehrlich. 

Da gibt es irgendetwas, das an ihm nagt und das muss ihn ziemlich mitnehmen, wenn diese Frage und der Gedanke an diese eine Sache ihn derart aus dem Konzept bringt. Ich wüsste zu gerne, was es ist, würde ihm gerne helfen, wenn ich irgendwie kann, aber wie soll ich das anstellen? Ich will mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen, wenn er mir immer deutlich klar macht, dass er das nicht will, weil sie mich überhaupt nichts angehen. Ich will nicht bei einer solchen Angelegenheit unnötig bohren, wenn ich genau bemerken kann, wie sehr es ihm wehtun muss. 

Und trotzdem kann ich nicht aufhören daran zu denken. Was bereut er so sehr? Es muss schlimm sein, dass es ihn so mitnimmt. 

Sein Anblick geht mir nicht mehr aus dem Kopf; wie er seine Lippen zusammengepresst und dann leer geschluckt hat. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und gen Himmel geschaut, als ob er dort irgendeine Antwort auf eine Frage erhalten könnte und schliesslich hat er mir gesagt, dass er sich wünscht, dass es so wäre, mit belegter, rauer Stimme, so leise, dass die Worte beinahe vom Wind davongetragen worden wären, anstatt dass ich sie hören kann.

"Du bist viel zu aufgewühlt für diese Uhrzeit, Kook", reisst Yoongi Hyung mich schliesslich aus meinen Gedanken. Ich schrecke hoch und sehe wieder zu ihm und sehe, wie er wieder an der Kippe zieht, denn das Ende glüht rot-orangefarben auf, ehe die Farbe wieder erlischt und Yoongi den Rauch ausatmet. Die nächste Strassenlaterne im Viertel, wo er lebt, ist einige Meter von seinem Wohnblock entfernt, ihr Licht reicht kaum bis zu uns, reicht gerade dafür, dass ich seine Silhouette ausmachen kann und seine Augen leicht aufblitzen sehe. 

"Tut mir leid, Hyung", murmle ich leise und wende meinen Blick daraufhin wieder ab, während ich Yoong amüsiert auflachen höre. Im nächsten Moment hat er mich in den Schwitzkasten genommen, was ich mit einem überraschten Laut quittiere, bevor er mir durch die Haare fährt. "Wofür entschuldigst du dich bitte, Kleiner?", meint er, als er bereits wieder von mir ablässt und sich die Kippe wieder zwischen die Lippen steckt. Auf seine Frage hin zucke ich mit den Schultern. "Dafür, dass ich dich um ein Uhr morgens aus dem Bett geklingelt hab?", antworte ich leise und wieder höre ich ihn leise lachen. "Hast du nicht - ich war noch wach", erwidert er, "Ausserdem habe ich auch mitten in der Nacht Zeit für dich. Also, was ist los?"

Ich schürze die Lippen und seufze tief, während ich den Kopf senke und auf meine Füsse starre, die zwei Stufen weiter unten stehen. Nachdem Taehyung sich verabschiedet hat und gegangen ist, wollte das Gedankenkarussell in meinem Kopf keine Ruhe mehr finden und wie von selbst bin ich schliesslich vor Yoongi Hyungs Wohnung gestanden und habe bei ihm geklingelt. Der Ältere hat nicht lange nachgefragt, nachdem ich ihm durch die Gegensprechanlage gesagt habe, dass ich es bin, und ist nach draussen gekommen, wo wir uns gemeinsam vor den Eingangsbereich des Wohnblockes gesetzt haben. Da sind wir nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit, doch gehen will ich ihn nicht.

Ich mag es, mit meinem Hyung nachts draussen zu sitzen, das ist nicht das erste Mal und wird sicherlich auch nicht das letzte Mal sein. 

"Ich habe mich einfach nicht müde gefühlt", murmle ich leise und fahre mir durch die Haare. Mein Hyung schnaubt und ich kann mir bildlich vorstellen, wie er seine Augen gerade verdreht. "Jungkook, ist etwas vorgefallen mit dem Kerl?", will er ernst wissen. Ich zucke hilflos mit den Schultern. 

"Hyung", fange ich leise an, "Wenn ich sonst in seine Augen gesehen habe, habe ich Kälte erkannt. Ich habe Leidenschaft gesehen, wenn er das getan hat, was er liebt, ich habe Wut gesehen, ich habe Wärme gesehen - aber heute... Hyung, ich habe noch nie so viel Trauer in den Augen eines anderen Menschen gesehen..."

Kurz herrscht Schweigen, dann höre ich Yoongi leise seufzen. "Solange er dir nichts erzählt, solltest du dich ganz dringend aus diesen Angelegenheiten raushalten, Jungkook", meint er ruhig und ich schürze unzufrieden die Lippen. Das weiss ich selbst, doch es fällt mir so schwer, diese Anweisung zu befolgen.

  "Man wird immer zu dem gemacht, was man schlussendlich ist..." 

Irgendetwas hat auch Taehyung zu dem gemacht, was er heute ist. Irgendetwas hat dazu geführt, dass er derart traurig ist, wenn er darüber nachdenkt, ob er in seinem Leben etwas bereut oder nicht. Und ich will um alles in der Welt wissen, was es ist.

Graffiti [Vkook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt