🔱Sechsundfünfzig🔱

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Jungkook

Nachdem ich gesprochen habe, ist es lange Zeit still. Taehyung weicht meinem Blick wieder aus und ich sehe praktisch, wie er innerlich mit sich kämpft. Er musst das lange Zeit mit sich herumgeschleppt haben und es muss ihn zerfressen haben, dass er ohne seine Schwester gegangen ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was er von sich selbst für diese Aktion hält, aber es liegt nicht an mir, darüber zu urteilen, wo ich die Situation in der er gesteckt haben muss, gar nicht kenne. Die Sekunden verstreichen, werden zu Minuten und schliesslich gehe ich davon aus, dass er es mir nicht sagen möchte, was ich akzeptiere und auch verstehe. Ich wüsste selbst nicht, ob ich jemanden so etwas erzählen könnte, wenn ich in seiner Haut stecken würde.

Ich schlinge vorsichtig meine Arme um seinen noch immer entblössten Oberkörper, spüre die angenehme Wärme, die von ihm ausgeht und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter, um ihm wenigstens irgendwie etwas Trost spenden zu können. Er soll realisieren, dass er nicht allein ist, dass er deswegen noch lange kein abgrundtief schlechter Mensch ist und dass er sich das vor allem nicht so zu Herzen nehmen sollte. Das macht ihn nur kaputt. 

Still harre ich aus, höre bloss Taehyungs unregelmässige Atemzüge, die mir sagen, wie aufgewühlt er innerlich gerade sein muss. 

"I-ich... ich hab dir doch mal gesagt, dass ich nicht weiss, wieso ich unbedingt Französisch lernen musste", erklingt seine Stimme dann völlig unvermittelt und ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus, als ich realisiere, dass er wohl tatsächlich bereit ist, mir das zu erzählen, was er all die Zeit lang so sorgfältig vor mir geheim gehalten hat. Ich weiss noch, wie er mich angefaucht hat, als ich erstmals wissen wollte, woher er kommt, doch nun möchte er es mir doch erzählen. "Ja, ich erinnere mich", bestätige ich seine Aussage leise und positioniere einen meiner Arme neu, sodass ich ihn nun um seine Schultern liegen habe und die andere Hand wieder sachte über die vielen Tattoos fahren lassen kann. Sein gesamter Körper ist ein einzigartiger Anblick, die Motive üben eine unheimliche Faszination auf mich aus und gerne wüsste ich, was sie alle bedeuten. 

"Früher war Französisch die Sprache der Aristokraten", erklärt Taehyung mir leise und sorgt so dafür, dass ich innehalte. Aristokraten? Er meint die Adligen? "Was hat das genau mit dir zutun?", hake ich nach und höre ihn seufzen. "Meine Vorfahren waren adlig, Jungkook", erklärt er, "Und über die letzten Generationen ist der Adelstitel vielleicht unwichtig geworden, doch... das Geld, dass unsere Familie besitzt ist immer noch da."

Langsam setze ich mich wieder aufrecht hin und mustere den Älteren eingehend. "Willst du mir gerade sagen, dass deine Familie reich ist?", hake ich trocken nach, woraufhin Taehyung kalt auflacht und nickt. "Sehr reich, Jungkook."

Ich nicke das Ganze nachdenklich ab und neige dann den Kopf. "Das ist aber noch lange kein Grund abzuhauen", bemerke ich dann leise und Taehyung seufzt einmal mehr. "Du kennst meine Eltern nicht. Das Geld hat sie verdorben, da war ich noch nicht einmal auf der Welt." Unsicher beisse ich mir auf die Unterlippe und nicke wieder. "Ich glaube mittlerweile, das sie in erster Linie nicht einmal wirklich Kinder haben wollten", murmelt er und sieht an mir vorbei, "Vielleicht haben sie welche gekriegt, weil es damals... modisch war? Sowas wie eine Designertasche, verstehst du?"

Bei seinen Worten wird mir beinahe übel und ich schlucke leer. Langsam lege ich meinen Kopf wieder an seiner Schulter ab und lasse mir das Ganze noch einmal kurz durch den Kopf gehen.  "Nur dass man ein Kind nicht wie eine Designertasche einfach in den Schrank stellen kann, sobald es nicht mehr 'modisch' ist", flüstere ich mehr zu mir selbst, doch zu meinem Erschrecken bejaht Tae meine Worte mit einem bitteren Ton in der Stimme.

"Sie waren beschissene Eltern", erklärt er leise weiter, "Oft waren sie gar nicht zuhause, sondern auf Geschäftsreisen oder simpel im Urlaub. Dann haben oft Nannys auf uns aufgepasst und als ich alt genug war, hatte ich die Verantwortung über meine Schwester. Im Grunde waren wir ihnen ziemlich egal; sie haben für uns gesorgt, so weit sie es als Eltern nun einmal mussten, aber das war es auch schon..." Er bricht ab und ich höre, wie sein Atem leicht stockt, bevor er wieder tief Luft holt. Es muss ihn Mühe kosten, darüber zu reden. Zaghaft wandere ich mit einer Hand zu seinem Nacken, vergrabe meine Finger in den roten Haarsträhnen und kraule die Stelle langsam. 

Graffiti [Vkook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt