🔱Ending🔱

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Jungkook

Mit klammen Fingern lasse ich die Spraydose, die ich gerade eben benutzt habe, zurück in den Rucksack gleiten und suche dann die nächste im fahlen Schein der Strassenlaterne.

"Wie kann man sich das freiwillig bei den Temperaturen nur antun?", zerreisst eine tiefe Stimme neben mir die Stille. Ich schnaube und kriege die schwarze Sprühdose zu fassen, ehe ich sie aus dem Rucksack ziehe und jenen dann achtlos wieder neben mich werfe.

"Es ist das letzte für dieses Jahr, Hyung, dann warte ich bis zum Frühjahr", erwidere ich, während ich die Dose etwas schüttle und wieder näher an die Wand herantrete. Es wird tatsächlich das Letzte für dieses Jahr sein, denn langsam aber sicher wird es definitiv zu kalt, um nachts Stundenlang draussen zu stehen und eine Hauswand zu besprühen. Seufzend krame ich mein Handy hervor und mache es an, nur um das Bild zu betrachten, welches ich für mein Motiv extra aus dem Internet herausgesucht habe. Es ist nichts weiteres, als vier chinesische Schriftzeichen und dennoch, wann immer ich sie sehe, verbinde ich einen ganzen Menschen mit ihnen. 

"Und mit dem konntest du nicht auch bis zum Frühjahr warten?", höre ich Yoongi fragen, woraufhin ich mich zu ihm umdrehe und ihn mustere. "Nein", antworte ich beinahe spitz und beobachte, wie mein bester Freund nichts darauf sagt, sondern nur weiter auf seinem Handy herumtippt und dabei ein kleines, undurchsichtiges Grinsen auf den Lippen trägt. Wenn piesackt er schon wieder? Seufzend wende ich mich wieder meinem Handy zu, betrachte wieder das Bild, das dritte der vier Zeichen unter die Lupe nehme, um es nachher so originalgetreu wie möglich an die Wand zu bringen, wie bereits die ersten beiden Schriftzeichen. 

"Das wird noch etwas dauern, nicht wahr, Kookie?", höre ich Yoongi wieder fragen und brumme zustimmend, bevor ich den Kopf und meine Hand, mit welcher ich die Spraydose halte, hebe und vorsichtig beginne, die ersten Linien zu ziehen.  "Was bedeutet das überhaupt?", will der Schwarzhaarige dann wissen und ich halte inne und sehe zu ihm, während mein Herz sich schmerzhaft verkrampft.

"Der allerschönste Moment im Leben", antworte ich leise. Ich weiss nicht, wie ich darauf gekommen bin, ein Tattoo von Taehyung an eine Wand zu sprayen, doch seit der Gedanke sich in meinem Kopf festgesetzt hat, bin ich ihn nicht mehr losgeworden und ich wollte es so schnell wie möglich umsetzen. Ich habe mich dazu bereit erklärt, mich in diese scheiss Kälte zu begeben, um das Motiv noch vor dem ersten Schneefall an eine Wand zu sprayen, einfach weil es mir so viel bedeutet, weil ich mit der Bedeutung dieser vier Zeichen selbst so viel verbinden kann. Nicht nur Taehyung selbst, sondern auch einige Momente in meinem Leben, welche ich ebenfalls mit dem rothaarigen Punk erlebt habe. 

Es scheint, als wäre er nur in mein Leben getreten, um mir ein Bisschen der grenzenlosen Freiheit zu zeigen, nach der ich mich so sehne, um mir die tausend Möglichkeiten, die ich tatsächlich besitze, aber nie erkannt habe, zu zeigen. Und selbst wenn er das getan hat, war es nicht genug. Ich vermisse ihn, selbst wenn das bereits drei Monate her ist. Ich vermisse ihn mehr als alles andere. Der Schmerz ist nicht vergangen, er ist nur minimal kleiner geworden und ich habe mit der Zeit angefangen, besser damit umzugehen, das Loch in meiner Brust zu ignorieren, so gut ich kann und mich auf andere Dinge zu konzentrieren, als auf den Verlust. Das hat auch ganz gut geklappt, aber es ist eben nicht das, was mir wirklich hilft. Es füllt die Leere nicht, die Taehyung hinterlassen hat, es ersetzt ihn nicht, aber ich bezweifle, dass irgendjemand Tae ersetzen könnte. Er ist so einzigartig und speziell, wer könnte so eine Persönlichkeit jemals wettmachen? Ich kann es mir nicht vorstellen. 

"Du solltest aufhören vor dich hinzuträumen, wenn du bis morgen früh fertig werden möchtest", reisst Yoongi mich dann mit einem leicht amüsierten Unterton aus meinen Gedanken, weswegen ich überhaupt erst aufschrecke und dem Blick seiner dunklen Augen begegne. Er hebt nur eine Augenbraue und lehnt sich gegen die Strassenlaterne, die uns Licht spendet. "Mir ist kalt, ich verschwinde", gibt er bekannt, woraufhin ich die Augenbrauen zusammenziehe. "Du hast gesagt, du kommst mit!", erwidere ich beinahe etwas harsch und Yoongi zuckt nur mit den Schultern. "Das bin ich, aber ich will echt nicht erfrieren und du scheinst noch ein paar Stunden zu brauchen, wenn du in dem Schneckentempo weitermachst", kontert er und stösst sich dann von der Strassenlaterne ab, bevor er sich umdreht. "Lass dich nicht erwischen, hörst du?"

"Jaja, werd ich schon nicht", erwidere ich, "Bis dann, Hyung!" Ich höre noch, wie seine Schritte sich entfernen, doch ich konzentriere mich gar nicht mehr auf ihn, sondern beginne wieder weiterzuarbeiten. Einige Minuten verbringe ich so in kompletter Stille in der Kälte, die meine Finger beinahe taub anfühlen lässt, während ich unaufhörlich weiterarbeite. Ich will das vor dem Morgengrauen fertig kriegen, also habe ich keine Zeit mehr, ständig zu träumen und wieder in Gedanken zu versinken. Das kann ich auch, wenn das Motiv an der Wand prangt. 

Während mein warmer Atem kleine Wolken in der kalten Luft bildet, spraye ich weiter, so genau und exakt, wie ich kann, um die Zeichen deutlich zu machen und nicht zu verhunzen mit ungenauer Arbeit und fehlender Konzentration.

"Du versteifst dich wieder so fürchterlich, das kann man sich ja nicht mit ansehen. Hast du etwa alles vergessen, was ich dir beigebracht hab?"

Die Stimme zerreist die Stille unheimlich laut, selbst wenn die Worte an sich eigentlich sehr ruhig gesprochen worden sind. Ich kenne sie. Ich kenne den tiefen, rauen Klang und kaum erklingt sie, stellen sich die feinen Härchen in meinem Nacken auch schon auf und ich erstarre zu einer Salzsäule, während mein Herz mit einem Mal schmerzaft und vor allem unfassbar schnell zu pochen beginnt. In meiner Brust breitet sich ein Gefühl aus, das ich nicht genau definieren kann, etwas zwischen Nervosität, Aufregung, Freude, Fassungslosigkeit und noch mehr Freude. 

Leer schluckend drehe ich langsam den Kopf, um über meine Schulter zu der Person sehen zu können, die da gerade gesprochen hat, um mich zu vergewissern, dass ich da nicht gerade fantasiert habe. Dass da tatsächlich derjenige ist, dem die Stimme gehört, die ich so oft gehört und zu lieben gelernt habe. Ich habe beinahe Angst, zu sehen, ob er da steht oder nicht, doch als ich ihn schliesslich im Schein der Strassenlaterne erkenne, ist mir, als würden Steine von meinem Herzen fallen und mich ungemein erleichtern. Ich weiss nicht, was ich sagen soll, also starre ich ihn einfach nur perplex an.

Er ist hier. Taehyung ist tatsächlich hier, steht wenige Meter hinter mir, die Hände in seinen Jackentaschen vergraben und mir ein schiefes, unsicher wirkendes Grinsen schenken, so als erwartet er, ich würde wütend werden und ihn anschreien. Doch ich kann nur anfangen zu lächeln, und ihn weiterhin wie bekloppt anstarren. Er hat sich kaum verändert, das Einzige, was mir auf Anhieb auffällt, ist, dass sein Haar nicht mehr so stechend, leuchtend rot ist, sondern pechschwarz und wohl auch etwas geschnitten, denn die Strähnen fallen ihm kaum mehr in die Sicht, wie damals.

Der Ältere setzt sich in Bewegung, als ich immer noch nichts sage, stellt sich dann neben mich und bückt sich zu meinem Rucksack, bevor er eine Spraydose hervorkramt. "Lass mich dir helfen", ist das Einzige, was er murmelt, bevor ich bereits das Zischen der Sprühdose hören und mitverfolgen kann, wie er wohl beginnt das vierte der Zeichen zu sprayen, die er selbst gut genug kennt. 

Ich lache leicht und selbst wenn mir jetzt tausend Dinge auf der Zunge liegen, die ich ihm sagen und ihn fragen will, besonders, was er hier macht, so schweige ich weiter und wende mich meinem eigenen Schriftzeichen zu, um es weiterzumachen und zu beenden. 

Ich habe noch mehr als genug Zeit, um ihn all die Dinge zu fragen, die ich wissen will, jetzt, wo er wieder hier ist. Und ich habe nicht vor, ihn ein zweites Mal einfach gehen zu lassen.

Graffiti [Vkook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt