🔱Fünfunddreissig🔱

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Taehyung

Die Strassenlaterne unweit von uns ist mittlerweile das Einzige, was noch Licht spendet in der Dunkelheit, die gemeinsam mit der Nacht hereingebrochen ist. Sie spendet genug Licht,  damit ich keine Taschenlampe benutzen muss, um die Betonwand vor mir, zu besprühen. Ich sehe so genug und Jungkook kann tatsächlich nur zusehen und muss nicht eine Taschenlampe für mich halten.

Es ist ruhig zwischen uns, tatsächlich hat er für ein Mal wohl einfach keine Fragen, die er mir pausenlos stellen könnte - oder er hat tatsächlich begriffen, dass er keine Antwort kriegen wird oder nur sehr ungenau, die seinen Wissensdurst sicherlich niemals stillen werden. Mir macht es nichts aus, ich geniesse die Ruhe für einmal und hoffe, sie wird etwas anhalten. Bock auf sein Frage-Spielchen habe ich nämlich überhaupt nicht.

"Sprayst du tatsächlich dieses.... französische Ding halt?"

Vielleicht habe ich mich gerade zu früh gefreut.

Ich nicke wortlos und stelle meinen Rucksack neben mir ab, ehe ich ihn öffne und eine erste Spraydose hervorkrame, um mir die Farbe anzuschauen und zu entscheiden, wie das Graffiti gestaltet sein soll. Eine vage Idee habe ich bereits, doch ich bin mir wegen der Farben noch nicht ganz sicher. "Wie heisst es nochmals?", hakt Jungkook in meiner unmittelbaren Nähe nach und mit einem leisen Seufzen richte ich mich halbwegs auf und schenke ihm einen kurzen Blick durch meine roten Haarsträhnen hindurch, die mir dank meiner gebückten Haltung noch viel mehr in die Augen fallen, als ohnehin schon. "Je ne regrette rien", sage ich langsam und eindringlich, "Es ist gar nicht so schwierig zu merken."

Jungkook schürzt die Lippen und neigt den Kopf. "Für dich vielleicht", murmelt er leise, beinahe trotzig und entlockt mir damit ein kleines Lachen, während ich mich bereits wieder den Spraydosen in meinem Rucksack zuwende. 

Nach kurzer Überlegung, entscheide ich mich schliesslich für das blasse Rosa, wohl die Dose, die ich am allerwenigsten benutze und richte mich gänzlich wieder auf. Mit einer kleinen Kopfbewegung vertreibe ich die lästigen Strähnen, die mich am Sehen hindern und beginne dann, die ersten Striche der Buchstaben, die ich an die graue Wand bringen will, zu sprühen. Man hört einen Moment lang nichts, bis auf unsere regelmässigen Atemzüge und das Zischen, als die Farbe die Spraydose verlässt und ihren Abdruck auf der Hauswand eines Fabrikgebäudes am Stadtrand hinterlässt. Jungkook hat erst gezögert, mit mir das Gelände zu betreten, aber die Fabrik steht schon seit ein paar Jahren leer, also wen soll es stören, wenn wir hier sind? Wir brechen nicht in das Haus ein und die hässlichen, kahlen Mauern haben sicherlich auch nichts gegen eine Aufhübschung.

Konzentriert mache ich weiter und merke, wie ein Lächeln sich auf meinen Lippen zu formen beginnt, mit jedem Strich, den ich mache und die Buchstaben, die Worte mehr und mehr sichtbar werden. Es ist nicht so gross, wie das Nevermind auf der Brücke, allerdings ist es auch nicht klein. Es ist ein gutes Mittelmass, ein Motiv, dass ich in etwa zwei Stunden fertig kriegen sollte, wenn ich konzentriert bin und es nicht einfach schnell hinschmiere. Aber das könnte ich wohl sowieso nicht, dafür macht es mir zu sehr Spass und ich bin ein zu grosser Perfektionist, um mir keine Mühe mit etwas zu geben, was ich so sehr liebe.

Nach einiger Zeit sind die Worte schliesslich fertig und ich mache mich daran, mit einem hellblau, das Motiv zu vollenden. "Wenn du sprayst, bist du am glücklichsten, nicht?", erklingt Jungkooks Stimme direkt hinter mir und ich zucke leicht zusammen, weil ich seine Anwesenheit bis zu diesem Punkt wieder komplett vergessen habe. Ich werfe einen Blick über die Schulter zu ihm und schenke ihm ein vages Lächeln. "Es gibt bis heute nichts, was mich glücklicher macht, als meine Kreativität irgendwo auszuleben", gebe ich zu, "Ich schätze, jeder Künstler ist glücklicher, wenn er kreativ ist."

Der Student erwidert mein Lächeln ein wenig und neigt dann den Kopf. "Du hast vermutlich Recht", räumt er ein und ich wende mich wieder dem beinahe fertigen Bild zu und fange an, die blauen Flügel des kleinen Schmetterlings zu sprayen, welcher sich auf dem 'J' niedergelassen hat. Dazu kommt der fragile, dünne Körper, seine Fühler und die Beine in Schwarz, ehe ich die Spraydosen allesamt zurück in den Rucksack stopfe und diesen verschliesse.

Ich schultere das alte Ding und drehe mich in derselben Bewegung zu meiner Begleitung um, die mit einem Blick voller Bewunderung und Faszination das fertige Bild ansieht. Ich merke, wie ein Funke Stolz in mir aufkommt und sehe selbst zurück auf das Bild. Perfekt ist es nicht, das ist ein Bild nie für mich, wenn ich es selbst gemacht habe, aber ich mag es. Und Jungkook anscheinend auch.

"Ich glaube, ich habe tatsächlich etwas gelernt dabei", bemerkt er leise und ich nicke. Ich habe ja gesagt, manchmal lernt man einiges, wenn man nur zusieht. 

"Gibt es tatsächlich nichts, was du in deinem Leben bereust?", höre ich ihn dann allerdings plötzlich hinzufügend fragen und kaum hat er seine Worte ausgesprochen, erstarre ich in meiner Bewegung. Kurz schaue ich ihn an, dann jedoch schaue ich zu Boden, während meine Gedanken abschweifen. 

Einen Moment lang habe ich Soomins Gesicht wieder absolut glasklar vor meinen Augen.

Meine Schwester ist auf eine Art und Weise schön, die sich einem für immer ins Gedächtnis einbrennt. Ihr Gang ist anmutig, beinahe feenhaft und sie hat das schönste Gesicht, dass ich bei einer jungen Frau jemals gesehen habe. Ihre Haut ist Makellos und ihre mandelförmigen Augen funkeln in einem warmen, anziehenden Braun. Man kann kleine Sommersprossen auf ihren Wangen und dem Nasenrücken ausmachen und ihre roten Lippen sind meistens zu einem atemberaubend schönen, sanften Lächeln verzogen. 

"Ich wünschte mir, es wäre so", flüstere ich letztendlich nur leise, heiser, auf Jungkooks Frage hin und lege gleich darauf den Kopf in den Nacken, um in den Himmel zu sehen und die Sterne zu erkennen, die sich dort am schwarzen Himmelszelt abzeichnen. Ich schlucke schwer, versuche den Kloss, der sich mit einem Mal in meinem Hals gebildet hat, zu vertreiben, doch es ist unmöglich, genauso, wie ich auch die Tränen in meinen Augen kaum zurückhalten kann, wenn ich daran denke, was ich getan habe.

Ich habe meine Schwester im Stich gelassen - wie könnte ich damit jemals klar kommen? Wie könnte ich mir selbst diese Tat nicht übel nehmen? Es gibt in meinem Leben nichts, was ich bereue, bis auf diese eine Entscheidung. 

Wenn ich nur könnte, würde ich alles dafür geben, die Zeit bis zu diesem Punkt zurückzuspulen und es zu ändern. 

Graffiti [Vkook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt