Solaria
Einige Stunden später, als die Sonne schon hoch über dem Palast steht, es aber eigentlich noch früh am Morgen ist, kommen meine beiden Zofen hinein. Auch sie haben mit den Nächten zu kämpfen. Das Zeitgefühl ist komplett durcheinander. Zelit dreht sich mal schneller, mal langsamer, so ist ein Tag nie vierundzwanzig Stunden lang. Obwohl wir uns nach vierundzwanzig Stunden richten, es ist schwer. Der kürzeste Tag in zwanzig Jahren, so berichtete mein Vater mir, war am Tag meiner Geburt. Das wundert mich eigentlich nicht, immerhin strahlte die Sonne an dem Tag wohl besonders hell. Vater sagte, der Tag wäre nur 18 Stunden lang gewesen. Es gab keine einzige Stunde in Dunkelheit, die Sonne schien permanent mit ordentlich Kraft.
Jedenfalls ist die länge eines Tages unbeständig, aber die Phasen zwischen Helligkeit und Dunkelheit noch mehr. Meist ist es in der Nacht, wenn Mensch und Gott eigentlich schlafen will, Taghell, und am eigentlichen Tag ist es wieder stockduster. Das wechselt manchmal schneller als man es merkt.
Meine Zofen ziehen die Vorhänge wieder auf und Baden mich, ziehen mir ein blaues Kleid an, frisieren mein Haar. Gegenüber bei Stella passiert gerade das gleiche, und wir treten beinahe Zeitgleich auf den Flur.
Mein Vater ist zwar kein Herrschergott, aber trotzdem finde ich seine Gabe sehr nützlich.
Er erzählte einmal, früher sei er gerne in der Zeit gereist, um sich anzusehen, war vor ihm so passierte, doch seine Reisen verursachten einige Paradoxa in der Zeit, also ließ er es bleiben. Er erkannte, dass Zeitreisen gefährlicher ist als gedacht. Trotzdem nützt seine Gabe dem gesamten Palast, da er immer genau weiß, wie spät es ist. Auch wenn der Himmel etwas anderes sagt, er ist immer auf dem neuesten Stand. Alles läuft nach einem geregelten Zeitplan ab im Palast, keiner ist auch nur eine Minute zu spät dran. So stehe ich jetzt fertig gebadet und gestriegelt meiner Schwester im Flur gegenüber, bereit für das Frühstück.
Arm in Arm steigen wir die breite Treppe hinunter, die zu unseren beiden Zimmern führt. An den Wänden hängen Gemälde von vergangenen Königen von Mutario. Herrschergötter und normale Götter immer im Wechsel. Wie genau das System mit der Thronfolge funktioniert weiß ich nicht. Man sollte annehmen, da ich Thronfolgerin bin sollte ich es wissen, aber ich habe andere Dinge im Kopf. Von den Gelehrten hat es mir auch niemand erklärt, obwohl sie es sicher tun wollten. Jedoch, ich konnte es nicht hören. Mein Kopf ist vollgestopft mit zwei Dingen. Einerseits ist das der fehlende Mondgott, andererseits meine Schwester. Das sind die einzigen Dinge auf dieser Welt, die für mich wirklich eine Bedeutung haben. Nicht, dass ich meine Eltern und das Volk nicht liebe.
An Unterricht war in den letzten Jahren jedenfalls nicht zu denken, denn ich hatte meinen Kopf woanders. Ich lag oft genug im Krankenflügel. Einfach nur, weil meine Nerven zusammenbrachen. Meine Seele schrie nach Erlösung, meine Gedanken sehnten sich nach einem Ende.
Eines Tages wollte ich mich umbringen. Einfach aus dem Fenster werfen und aufhören zu existieren. Ich erinnere mich Dunkel an diesen Tag, am liebsten würde ich ihn wieder aus meinem Gedächtnis streichen. Wenn mir je ein Gott über den Weg läuft, der dazu fähig ist, dann muss er diese Erinnerung löschen.
Stella fand mich damals und hielt mich zurück. Ich glaube, dieser Moment wird auch sie ihr Leben lang verfolgen, wie ihre Schwester ihr Leben einfach achtlos wegwerfen wollte, und das tut mir leid. Auch sonst wurde ich oft genug schreiend und weinend vorgefunden. Mittlerweile reiße ich mir dabei nicht mehr die Haare aus.
Es ist nicht einfach nur die Einsamkeit, die mich quält, es ist etwas ganz anderes. Es ist, als lebte ich nur zur Hälfte. Als wäre ich für nichts gut genug, solange der Mondgott nicht an meiner Seite sei. Ich wäre immer nur die einsame Sonnengöttin, die es nicht schafft, Zelit und seine Bewohner von dem Elend zu befreien, der Tag und Nacht aus ihnen macht. Ein Teil von mir fehlt. Ein Teil von mir ist nicht da. Als besäße mein Körper nur eine Lunge und nicht zwei, und ich litte an permanenter Atemnot. Ich ertrinke, und das schon seit zwanzig Jahren.
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Sonnenwind (Band 1)
FantasyDie Sonnengöttin Solaria soll heiraten. Doch das Problem bei der Sache ist, dass sie nicht einfach irgendwen heiraten kann, so gerne sie auch wollte. Denn ihr ist ein Partner angeboren, der Mondgott. Nur, wo ist der Mondgott? Er ist vor langer Zeit...