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Gina warf die Tür hinter sich zu und ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. So hatte sie sich ihr Leben immer vorgestellt und jetzt, mit knapp 40 hatte sie es geschafft! Sie tänzelte zu ihrem blauen Smart, warf die Autotür krachend zu und stellte ihre Stereoanlage auf die allerhöchste Stufe. Jetzt konnte sie endlich machen, was ihr gefiel. Was sie sich vorstellte. Jahrelang wurde sie immer unterdrückt und an der kurzen Leine gehalten. Jetzt hatte sie diese Leine zerrissen und lief mit weit ausholenden Schritten auf ihre Zukunft zu.

Die Bässe des Liedes ließen das gesamte Auto beben, was ihr ein lachen entlockte. Sie War das erste mal in ihrem Leben so glücklich, dass sie am liebsten das Fenster heruntergelassen hätte und jedem von ihren Gefühlen erzählt hätte.

Als sie nach dreiviertel stündiger Fahrt in ihrer ersten eigenen Wohnung ankam, rannte sie laut singend die Treppe hinauf, als auch schon die Tür aufgerissen wurde. "Halten Sie gefälligst den Mund! Mein Kind will schlafen! ", bellte eine junge, hübsche Frau und schuldbewusst schloss Gina den Mund. Deutlich ruhiger stieg sie die letzten Stufen hinauf, bis sie vor ihrer Wohnungstür stand.

Fast schon ehrfürchtig holte sie ihren Schlüssel aus der Handtasche und betrachtete ihn. Ihr eigener Schlüssel! Überglücklich schloss die auf und trat in die helle, freundliche Wohnung. Sofort sang sie wieder, dieses mal etwas leiser und warf die Handtasche achtlos in den Schrank, riss die High heels von den Füßen und schleuderte diese hinterher. Die Jacke fand ihren Platz neben der Mülltonne, Gina hatte den Stuhl verfehlt. Sie stürmte tanzend von Raum zu Raum und riss alle Fenster weit auf, begrüßte lachend einen Vogel, der auf ihrer Fensterbank saß und setzte ein paar Spinnen vor die Tür. Doch dann ließ ihre Euphorie langsam nach und machte der Ernüchterung Platz. Jetzt War sie auf sich alleine gestellt, in einer fremden Stadt, umgeben von fremden Menschen. Das einzige was sie bereits hatte, war die Wohnung und ein Job. Gina arbeitete als Kellnerin in einem hübschen Restaurant.

"Was soll ich nur machen! Ich habe niemanden, ich kenne niemanden. Ich...", sie stockte und Tränen traten ihr in die blau Augen "ich bin ein niemand! " Sie sank in den weißen Sessel und starrte traurig auf das Bild ihres Vaters. Die einzige Stütze, die sie je gehabt hatte. Damals, damals wo sie noch bei ihm gelebt hatte, War ihre kleine Welt noch perfekt. Sie waren arm aber glücklich. Aber als der Mann starb, brach über Gina alles schreckliche herein, was es nur gab. Sie bekam die falschen Freunde, stürzte dermaßen hab, dass sie in eine Drogenentzugsklinik gesteckt wurde. Als sie die nach einem halben Jahr verlassen durfte, wurde alles nur noch schlimmer. Sie lernte in einem kleinen Restaurant einen jungen Mann kennen. Bernado hieß er. Er War ein Jahr älter als sie und war für sie etwas wie ein großer Bruder. Jeweils zu Anfang. Aber als sie sich Hals über Kopf in den Kerl verliebte, gab er ihr das Schlimmste was eine junge Frau aushalten konnte. Wenn er getrunken oder schlecht drauf war, schlug er sie grün und blau. Er verkaufte sie an andere Männer, die sie vergewaltigen oder dermaßen demütigten, dass sie psychisch zugrunde ging. Ihr einziger Trost war, dass sie dünn war. Leider entwickelte sie dadurch eine Essstörung und magerte dermaßen ab, dass Bernado sich für sie schämte und hinaus warf. So lebte die Magersüchtige junge Frau ein weiteres halbes Jahr auf der Straße, bis eine Frau sie aufsammelte und wieder liebevoll aufpäppelte. Leider wurde die alte Dame sehr krank und konnte sich nicht weiter um Gina kümmern.
Wieder irrte sie auf der Straße herum, bis sie Russ traf. Der erste Mann, der sie wie eine Frau behandelte. Er liebte sie. Vergötterte sie. Deswegen sperrte er sie förmlich zu Hause ein, kontrollierte ihr Handy, stalkte ihr nach, wenn sie aus dem Hause ging. Gina haute ab und fand Trost in einer Selbsthilfegruppe. Die hatte die mittlerweile so weit aufgebaut, dass Gina ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bekam und nun ihr eigenes Leben lebte. "Ach Paps." Gina seufzte abgrundtief. Dann hellte sich ihr immer noch kindliches Gesicht wieder auf. "Wie hast du mir immer gepredigt? Kopf hoch, Bauch rein, Brust raus! "

Dann stand sie auf, schüttelte über ihre Melancholie den Kopf und begann sich Essen zu zubereiten. Vor einer Woche hatte sie die Wohnung eingeräumt und an diesen Tag, die Selbsthilfegruppe verlassen. Gina hatte die Liebe zum Detail entdeckt und ihre Wohnung mit allerlei Deko ausgestattet. Morgen würde sie sich im Haus vorstellen und versuchen, das Kriegsbeil zwischen ihr und der jungen Mutter zu begraben. Sie wollte Freunde finden und sich keine Feinde machen.
"Morgen ist alles wieder gut ", murmelte Gina, nickte bekräftigend und schob die Pizza in den Ofen.

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