Sick Man

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Die nächsten Tage verliefen ruhig. Patrick ließ sich nicht blicken, seine Fenster blieben dunkel, der Protz-Wagen stand nicht in der Einfahrt.

"Verdammt! " Gina fuhr hoch. Ein lautes Poltern hatte sie geweckt, dann der Fluch. Ein Blick auf ihre Uhr zeigte, dass es noch mitten in der Nacht war. Stöhnend ließ sie sich zurück sinken, als sie die Stimme erkannte, die erneut einen Fluch losließ. Er war wieder da. Langsam hatte Gina nämlich gehofft, er wäre einfach verschwunden. Wie ein Traum aus dem man aufwacht. Aber dieses Wunschdenken hatte sich leider nicht erfüllt. Sie hörte mit klopfendem Herzen, wie das Poltern der Schritte näher kam und direkt vor ihrer Tür halt machte. Gina hielt den Atem an, das Blut rauschte in ihren Ohren und völlig verkrampft lag sie im Bett. Wie erleichtert war sie, als nur Sekunden später das Poltern anzeigte, dass er weitergelaufen war. Gina machte tausend Kreuze und keuchte. Dieser Mann brachte sie noch an den Rand des Wahnsinns!

Als ihr Wecker um halb neun klingelte, fühlte sie sich wie erschlagen und warf dem störenden Ding einen vernichtenden Blick zu, als sie sich aus dem Bett quälte. Sie hatte so unruhig geschlafen und war immer wieder aufgewacht. Ihr Kopf dröhnte und übel war ihr auch. Und ausgerechnet heute musste sie zur Selbsthilfegruppe!
Wie eine alte Frau schlich sie ins Badezimmer und erschrak bei dem Anblick, der sie im Spiegel erwartete. Ihre Haut war blass und lieferten einen komischen Unterschied zu den dunklen Augenringen und den wild verstrubbelten Haaren.
Fast eine Stunde brauchte sie, bis sie einigermaßen zufrieden mit sich war. Jetzt war sie aber viel zu spät dran und genau deswegen stieß sie auch einen Wutschrei aus, als sie sah, dass ihr Nachbar sein Auto direkt vor ihres geparkt hatte.
Was sollte sie jetzt machen? Mit einem gequälten Stöhnen holte sie ihr Handy heraus und rief die Gruppenleiterin an. "Hallo Frau Schmidt. Ich komme ein bisschen später, fangen Sie ruhig schon ohne mich an. Ich wurde eingeparkt. " Ihre Betreuerin lachte und wünschte ihr viel Glück. Gina seufzte. Wie gut konnte sie das jetzt brauchen. Hoffentlich riss Patrick ihr nicht den Kopf ab, wenn sie ihn so früh weckte. Ihr fiel der Pyjama wieder ein und sie musste lächeln.

"Hallo? " Gina wurde langsam ungeduldig. Zum dritten Mal hatte sie jetzt geklopft und ihre Finger taten schon weh. Warum hatte das obere Geschoss keine Klingel, zum Kuckuck! Da hörte sie, wie sich hinter dem Holz etwas regte und klopfte erneut. "Ja ja! ", ertönte eine verschlafene Stimme und dann öffnete sich die Tür einen Spalt. "Och ne, was wollen Sie den schon von mir? " Er klang eher erschöpft als genervt und Gina bekam Mitleid mit dem Mann, der dieses Mal nur eine Boxershorts an hatte. Sie sah in seine Augen und erschrak. Wo war der forsche Blick hin? Ihr sahen dunkle Löcher entgegen, völlig emotionslos. Was war ihm widerfahren? Er hatte ihren erschrockenen Blick bemerkt und ein Anflug eines lächelns erschien auf seinem Gesicht. "Wohl nicht sehr ansehnlich, ne? " Seine Stimme klang seltsam gebrochen, was ihr eine Gänsehaut bescherte. "Was ist denn mit Ihnen geschehen? ", hauchte sie fast unhörbar und er lehnte sich erschöpft an die Wand. "Probleme. " Dann kniff er die Augen zusammen. "Was wollen Sie überhaupt hier? " Über den plötzlich herrschen Ton zuckte Gina zusammen und murmelte:"Naja, sie haben mich eingeparkt und ich müsste mal weg. " Ihr Gegenüber schloss kurz die Augen, blies die Wangen auf und fragte dann:"Mitten in der Nacht? " Nun musste Gina gegen ihren Willen lachen. "Wir haben kurz nach neun. Das nennen Sie mitten in der Nacht? " Überrascht öffnete er wieder die Augen und verlangte einen Blick auf die Uhr. Bereitwillig holte sie ihr Handy heraus, das bereits einen weiteren Anruf von Frau Schmidt zeigte. "Ich bin schon total spät dran, könnten Sie den Wagen Bitte weg fahren? " Ihr Nachbar zögerte einen Moment, dann nickte er und holte seinen Bademantel und den Autoschlüssel.
Eine viertel Stunde später war ihr Wagen frei und Gina bedankte sich bei dem Mann, der wie ein Häufchen Elend an der Wand lehnte. Sie machte sich plötzlich Sorgen um ihn. "Ähm, kann ich Ihnen etwas sagen, ohne dass Sie mich gleich umbringen? ", fragte sie unsicher und erntete einen spöttischen Blick. "Bin ich in der Lage dazu? " Ertappt senkte sie den Blick, bevor sie leise sagte:"Ihr Bruder war bei mir. " Stille. Gerade als sie den Kopf heben wollte, um zu gucken, ob er eingeschlafen war, fragte er:"Und? Was hat er Ihnen erzählt? " Er klang nicht wütend, nur erschöpft und so hob die den Kopf und antwortete:"Eigentlich nichts. Ich weiß jetzt nur, dass Sie Paddy heißen und keiner Frau was zu Leide tun. " Bei seinem Namen zuckte er zusammen und schloss die Augen. "Dieser Idiot! ", flüsterte er dann, bevor er wieder die Augen Aufriss, sich abrupt zu Seite drehte und heftig begann, sich zu übergeben.

"Von wegen Probleme! Krank sind Sie! " Gina führte den Kalkweißen Mann in ihre Wohnung, der anfangs sich noch gwehrt hatte, aber nun sich widerstandslos auf die Couch manövrieren ließ. Sie holte einen Eimer, der auch gleich eingeweiht wurde, da er sich erneut übergab. Danach ließ er sich zurück sinken und schloss die Augen. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß und Gina kam der Gedanke, dass er damals schon nicht ganz in Ordnung war. Auch da schien er merkwürdig erschöpft und sie zuckte zusammen, als sie nun vorsichtig seine Stirn berührte. "Oh Gott, Sie glühen ja! " Ihr Nachbar schien nicht ganz bei sich zu sein, er stöhnte bloß, öffnete aber seine Augen nicht. Mit einem seufzen rief sie ihre Betreuerin an und sagte komplett ab. Die Frau war sofort verständnisvoll und sagte, sie würde am Mittag für einen neuen Termin anrufen. Gina war froh, auch das sie die Wohnung nicht verlassen musste. Hallo? Auf ihrer Couch lag ein Mann, nur im Bademantel und darunter hatte er verdammt nochmal nur eine Boxershorts an! Und genau dieser Mann hatte ihr noch heute Nacht Angst gemacht! Aber nun fühlte sie sich verantwortlich für sein Leid und holte erst mal das Fieberthermometer.
Dann brauchte sie alle Willenskraft um den phantasierenden Mann zu wecken, damit sie das Thermometer ihm unter die Achsel schieben konnte. Sofort schoss die Rote Linie auf 40° Grad und langsam machte sie sich Sorgen. Der vielleicht Anfang dreißig Jährige Mann war so dünn, dass man sogar die Rippen durchleuchten sah. "Patrick ", versuchte sie ihn zu Wecken, doch er rührte sich nicht. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Er schien wirklich schwer krank zu sein! Da fiel ihr Joey's Nummer wieder ein und mit einem letzten Blick auf den wie tot da liegenden Mann, tippte sie seine Nummer ein.
Joey ging sofort dran und Gina rief angstvoll:" Joey? Komm schnell! Irgendwas stimmt mit Patrick nicht! Ich hab Angst das er stirbt! "

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