12.

439 11 2
                                    

Als die Tür aufgeschlossen wird, schrecke ich auf. Leicht verwirrt werfe ich einen Blick auf die Uhr, die mir den späten Nachmittag anzeigt. Ich muss wohl auf der Couch eingeschlafen sein. Die Tür fällt wieder ins Schloss und ich höre Schritte im Flur. Das muss Shawn sein.

Ich strecke mich noch einmal kurz bevor ich aufstehe, um meinem Freund entgegenzulaufen, halte jedoch nach wenigen Metern inne, als ich Gekichere höre. Überrascht schüttele ich den Kopf. Ich höre anscheinend schon Gespenster. Ein Mittagsschläfchen ist sicher nicht das richtige für mich.

Als ich aber wieder Gekichere und eine weibliche Stimme höre, bin ich mir sicher, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust. Wer kann das sein?

Möglichst vorsichtig linse ich in den Flur und traue meinen Augen nicht. Mein Freund hilft gerade einer Blondine aus ihrer Jacke, die er danach an einen Haken hängt, während seine Begleitung an ihm klebt und über seinen Arm streicht. Fassungslos beobachte ich die Beiden.

In meinem Kopf rattert es. Habe ich vergessen, dass er mir jemanden vorstellen wollte? Nein. Hat er mir einen Besucher angekündigt? Nein.

"Shawn?", mache ich mich bemerkbar. Der Lockenkopf dreht sich zu mir um. "Y/N", ich zucke bei seiner kalten Begrüßung zusammen. Er kommt nicht auf die Idee die wenigen Schritte zu mir zu laufen und mich in den Arm zu nehmen, geschweige denn mir einen Kuss zu geben. Er bleibt einfach bei der Blondine stehen.

"Leave, Y/N", fährt mein Freund noch ein wenig gefühlskälter fort und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Als ich keine Reaktion zeige schnauzt er mich an: "Leave my condo, Y/N." Er betont jedes einzelne Wort und unterstreicht diese, indem er bei jedem einen Schritt auf mich zukommt. Eingeschüchtert weiche ich zurück. 

Was ist nur in ihn gefahren? "Move!", brüllt er mich an, die Ader an seinem Hals steht deutlich hervor. Reflexartig mache ich mich kleiner. Mein Herz hämmert schnell und das Blut rauscht in meinen Ohren. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Habe ich etwas falsch gemacht?

Sein vor Wut rotes Gesicht entspannt sich ein wenig, als die Frau ihm beruhigend über den Arm streicht. Sie scheint ebenso verwirrt über meine Anwesenheit zu sein wie ich über ihre. "Who is that?", fragt sie Shawn im Flüsterton, aber immer noch so laut, dass ich sie verstehen kann. 

"No one, darling", antwortet er ihr, während für mich die Welt zusammenbricht. Ohne dass ich es will, sammeln sich Tränen in meinen Augen und meine Sicht verschwimmt. Er verleugnet mich, seine Freundin. Geschockt schaue ich ihn an und versuche krampfhaft die Tränen zurückzuhalten.

Die Frau wirft mir einen Blick zu. Sie wirkt nicht zufrieden mit seiner Antwort. "Why is she in here?", bohrt sie weiter. "She is leaving now." Abwartend schaut Shawn zu mir. Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Wie festgefroren stehe ich da, während ich versuche zu verstehen, was hier gerade passiert.

"You drive me nuts", ertönt seine Stimme schneidend. "I told you to leave", mit jedem Wort kommt er mir näher. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich habe meine Beine wieder unter Kontrolle und weiche ängstlich vor seiner bedrohenden Gestalt zurück.

"Are you deaf?", wieder zucke ich bei seiner Stimme zusammen, sodass ich noch ein Stück nach hinten weiche. Ein Schmerz macht sich in meiner Lendengegend bemerkbar. Ich bin gegen die Tischkante gestoßen, wird mir schlagartig klar. Durch mein abruptes Zurückweichen kann ich einen Sturz nicht mehr vermeiden. In Zeitlupe nähere ich mich dem Boden und schaffe es in letzter Sekunde, dass wenigstens eine meiner Hände reagiert. Meine linke Hand erreichen die Signale des Gehirns nicht. Mit der Rechten stütze ich mich ab. Ich versuche es zumindest. Als meine Finger den Boden berühren, weiß ich, dass das nicht gut ausgehen kann.

Schon spüre ich neben dem Schmerz an meiner Lendengegend einen weiteren, durchaus stärkeren, an meiner Hand. Ich ziehe die Luft ein, als meine Hand umknickt und ich mit vollem Gewicht auf sie falle. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ist zu viel.

Unfähig die Kraft zu bekommen, aufzustehen, bleibe ich schluchzend liegen. Es fühlt sich wie in einem Albtraum an. "Crybaby", säuselnd baut sich Shawns bedrohliche Gestalt vor mir auf, "Get up and leave!" Wie eine Giraffe kurz nach der Geburt, versuche ich, mich aufzurappeln. Ich werde jedoch von meinem schmerzenden rechten Handgelenk gehindert und rutsche zurück auf die kalten Fliesen. 

Ich werde ruckartig an meinen Schultern nach oben gerissen. Zitternd versuche ich Halt am Tisch zu finden. Shawn sieht nur herablassend zu mir herunter. Seine Größe wirkt einschüchternd. Ich traue mich nicht, in sein Gesicht zu sehen. 

"Don't give us up", flüstere ich flehend, meine Stimme ist leise und ängstlich. Sein selbstgefälliges Lachen sticht in meine Brust. Ich atme tief aus. Es ist hoffnungslos. Schluchzend setze ich einen Fuß nach dem anderen, immer bedacht, nicht noch einmal hinzufallen. Gebückt gehe ich an Shawn vorbei in den Flur.

Unter seinem wachsamen Blick traue ich mich nicht, meine Jacke mitzunehmen. Ich drücke die Klinke herunter und sofort fährt wieder der Schmerz durch meine Hand. Ich keuche auf. 

Meine rechte Hand mit meiner Linken schützend trete ich nach draußen. Ich wage es nicht, mich noch einmal umzudrehen, und ziehe die Tür hinter mir zu. 

Draußen kommt mir ein eiskalter Luftzug entgegen. Fröstelnd mache ich mich auf den Weg zur nächsten Metrostation. Mein ganzer Körper fühlt sich taub an. 

Die Tränen an meinen Wangen gefrieren langsam in der Januarkälte.

Mein Herz blutet gerade... Ich kann mir Shawn so einfach nicht vorstellen...

Shawn Mendes ImaginesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt