Kapitel 11 Der Engel

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Kapitel 11

Der Engel

Detroit, Michigan

29. November 2037

20:11 Uhr

Mit ihren großen Kopfhörern auf den Ohren, stand Celeste konzentriert vor ihrer Staffelei neben dem Schreibtisch. Das vereinzelte Klingen heller Glöckchen in Begleitung von tiefer, harmonischer Streichmusik und dem feinen Gesang einer Oboe ließ sie in ihrer Traumwelt versinken. Der Pinsel, welchen sie vorsichtig tupfend über die Leinwand führte, war ihr Verbindungsstück zwischen Fantasie und der Realität. Durch ihre Bilder konnte sie all die Dinge aus der verträumten und nachdenklichen Welt in ihrem Kopf wahr werden lassen.

Schließlich legte die junge Frau ihren Pinsel beiseite und trat einen großen Schritt zurück, um ihr Kunstwerk kritisch zu betrachten. Nachdem sie einen Schluck Wasser von dem Glas, welches links von ihr auf dem Schreibtisch stand, genommen hatte, lächelte sie zufrieden. Sie war fertig. Umgeben von Dunkelheit und vieler kleiner Schneeflocken, wovon sich ein paar in seinem kurzen, dunklen Haar verfingen, kniete er mit geschlossenen Augen vor ihr im Schnee. Ein blauhäutiger Engel, dessen Flügel aus glänzenden Metallteilen, kantigen Gewinden und aufblitzenden Schrauben bestanden. Seine blasse, nackte Haut wurde an manchen Stellen durch ein dunkles Azurblau vereinzelter Adern durchbrochen, doch der stärkste Kontrast zu seiner kalten Hauttönung befand sich inmitten seiner Brust. Ein verschwommener, runder Fleck aus orangeroter Farbe glühte dort wie das Licht einer einsamen Straßenlaterne. Zu guter Letzt verpasste Celeste dem Bild noch ihre Initialen in der rechten unteren Ecke. Sie nippte ein weiteres Mal an ihrem Glas Wasser und schnappte sich anschließend ihr Smartphone, um die Musik-App zu beenden. Amy hatte ihr in den letzten zwanzig Minuten sechs Nachrichten geschickt.

„Hey, wie war dein Tag?"

„Was machst du gerade so?"

„Ich wette, du malst an deinem Bild."

„Bin gespannt, wie es aussieht, wenn es fertig ist!"

„Ich kanns immer noch nicht fassen, dass du den Hawaii-Urlaub ernsthaft sausen lässt!"

„Meinst du nicht, du bereust es später?"

Blitzschnell tippte Celeste mit den Daumen ihre Antworten an ihre Freundin.

„Ist doch jedes Jahr das Gleiche. Ich freue mich endlich mal weiße Weihnachten zu haben."

„Mein Tag war gut. Habe bis eben gemalt."

Sie wählte die Kamera auf ihrem Display aus, um Amy ein Foto von ihrem soeben vollendeten Gemälde zu senden. In der Zwischenzeit war diese online gekommen.

„Wow, das sieht ja abgefahren aus!"

„Der Wahnsinn!"

„Und deine Eltern sind nicht enttäuscht darüber???"

„Danke!!!"

„Nein, sind sie nicht..."

„Ich werde im Januar achtzehn. Da können die Eltern ruhig mal ohne mich in den Urlaub fahren."

Dass ihre Eltern dieses Jahr ohne sie verreisten, gab ihr zwar das tolle Gefühl erwachsen zu sein, doch in ihrem tiefsten Innern sehnte sie sich nach Nähe, Geborgenheit und vor allem Aufmerksamkeit, wie sie sie einst als kleines Mädchen von ihnen zu spüren bekam. Sie stellte sich vor, wie sie an Weihnachten alle beisammen sein könnten, um mit gutem Essen und ein paar bunt verpackten Päckchen das Fest der Liebe zu feiern. Doch so einfach war es nicht zwischen ihr und ihren Eltern und das wusste auch Amy, weshalb sie ohne weiter darauf einzugehen schrieb:

„Okay."

Was Celeste daran am meisten bedrückte war, dass sie sich nichtmal selbst erklären konnte, wieso ihr Verhältnis zueinander so kompliziert war, obwohl die Ursachen dafür auf der Hand lagen. Als gefragter Architekt war Celeste's Vater nur selten zuhause bei seiner Tochter. Nachdem die Familie Zuwachs in Form eines Androiden bekam, wurde ihre Mutter von allen Aufgaben im Haushalt entbunden und konnte sich so ebenfalls voll ihrer Berufung widmen. Es war also kein Wunder, dass ihre Beziehung auf lange Sicht darunter leiden würde, wenn ein Butler sämtliche Aufgaben übernahm, wie das Mädchen von der Schule abzuholen, für sie zu kochen, ihre Wäsche zu waschen und letztendlich sie den ganzen Tag zu betreuen, wenn ihre Eltern nicht da sein konnten. All diese Gegebenheiten und die Tatsache, dass sie Jahr für Jahr älter und somit auch selbstständiger wurde führten dazu, dass Celeste immer mehr im Hintergrund verblasste.

Erneut vibrierte ihr Smartphone.

„Aber sag mal: wie verbringst du denn dann die Feiertage?"

„Wenn du möchtest, kannst du an Heiligabend zu uns kommen."

„Du könntest sogar bei mir übernachten."

„Du willst doch wohl nicht alleine bleiben, oder?

Das dunkelhaarige Mädchen dachte nach. Eigentlich war sie ja nicht allein. Alister würde sicher für ein leckeres Weihnachtsessen sorgen und sie könnten zusammen einen Baum kaufen und schmücken. Außerdem wäre es schön mit..., ihre Gedanken verpufften, da auf dem leuchtenden Display vor ihren Augen bereits eine weitere Chatnachricht von Amy erschien.


„Ich weiß genau, was du jetzt denkst!"

„Mach dir bloß keine Sorgen, du machst uns dadurch keine Umstände!"

„Ich und meine Mum hätten dich gerne hier bei uns."

Normalerweise hätte Amy, mit der Vermutung, dass ihre Freundin zögerte, weil diese die Befürchtung hatte, ihr und ihrer Mutter zur Last zu fallen, ins Schwarze getroffen. Doch bevor ihr eine dieser, für sie mitunter typischen, Moralfragen in den Sinn kam, hatte sie in diesem Moment ganz andere Bedenken. Als litten ihre zarten Finger unter Lähmungen, tippte sie Buchstabe für Buchstabe eine Nachricht auf ihrem Display.

„Hättet ihr denn etwas dagegen, wenn ich auch Alister mitbringe?"

Der Butler-Android war der Einzige in ihrer Familie, der ihr in den letzten Jahren Aufmerksamkeit und, wenn es nötig war, Trost spendete. Auch wenn sie dies höchstwahrscheinlich seiner ausgereiften Programmierung oder der Fähigkeit dazuzulernen verdanken mochte, so hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie ihn am Weihnachtsabend wie ein ungeliebtes Haustier zuhause ließ.

Amy's Antwort kam zwar keine zehn Sekunden, nachdem sie ihre Nachricht abgeschickt hatte, doch Celeste kam diese Zeit, in der sie nervös wartete, viel länger vor.

„Nö, wieso? Bring ihn mit!"

„Ist ja nicht so, dass wir für ihn eine Extra-Portion Essen einplanen müssen.", kam einige Sekunden, mit mehreren tränenlachenden Emojis versehen, noch hinterher. Celeste grinste in sich hinein, während sie sich vorstellte, wie sich ihre Freundin am anderen Ende krümmte vor Lachen über ihren eigenen Spruch.

„Da kann ich dir nicht widersprechen, Scherzkeks."

Die junge Frau legte ihr Handy beiseite und ließ ihren Blick entlang der Wände ihres Zimmers schweifen, die seit ihrer Freundschaft mit Amy von vielen bunten Bildern geschmückt wurden. Sie suchte nach einer geeigneten Stelle, an welcher sie ihr neues Kunstwerk aufhängen konnte, aber trotz der beträchtlichen Größe des Raums, war ihr der Platz dafür schon vor längerer Zeit ausgegangen.

Es wird sich schon ein passendes Fleckchen für dich finden, dachte sie zuversichtlich. Notfalls würde sie einfach eines der anderen abhängen.

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