Kapitel 11 | Nevio

4.1K 231 62
                                    

Am nächsten Morgen hatte Nevios Wecker schon gegen 6.30 Uhr geklingelt, obwohl es Sonntag war. Die einzige Notfallapotheke der Stadt öffnete um genau 8.00 Uhr, bis dahin müsste er insgesamt 44 Minuten mit der Straßenbahn fahren, zweimal umsteigen und dann noch den Weg von der Haltestelle zur Apotheke finden, doch diesen Stress nahm Nevio gerne auf sich, wenn es Yoda dadurch besser gehen würde.
Wie jeden Morgen nach dem Aufstehen hatte Nevio seine Bettdecke ordentlich hingelegt und war dann duschen, sowie Zähne putzen gegangen. Ein Gammellook sollte für diesen Sonntag reichen, weshalb er auch seine Haare nicht ordnete. Mit einem letzten Blick auf die dicht neben seinem Kopfkissen schlafende Yoda, verließ Nevio sein Zimmer und ließ den gewöhnlichen Türspalt geöffnet, falls Yoda später umherlaufen wollte.
Seine Eltern waren wohl spontan über Nacht weggeblieben, also waren nur Daphne und Darian in der Wohnung. Darian. Ein winziges Lächeln huschte bei seiner Erinnerung über Nevios Lippen, denn es war ihm im Kopf geblieben, wie er am gestrigen Abend für ihn da war. Manchmal kam es Nevio fast so vor, als würden sie sich schon ewig kennen, aber woher sollten sie das tun? Das war geradezu absurd, denn er kannte niemanden wie Darian.

Mit einem skeptischen Blick auf Daphnes geschlossene Zimmertür entschied Nevio, dass er den Beiden keinen Zettel schreiben würde. Vermutlich würde er schon zurück sein bevor sie aufwachten und wenn nicht, dann war es auch egal. Immerhin wussten sie, dass Yoda diese Medikamente dringend brauchte und wer dann noch glaubte, dass Nevio an einem Sonntag Morgen Kastanien auf ein Band fädelte, war einfach nur dumm.

Obwohl Nevio sich wirklich gerne um Yodas Medikamente gekümmert hatte, war er doch ziemlich froh, als er ein paar Stunden später endlich zu Hause ankam. In der Nähe der Apotheke war Nevio fast eine halbe Stunde lang herum geirrt und hatte den Weg gesucht, dann war noch die Information aus dem Internet falsch, denn die Apotheke öffnete erst um zehn Uhr und zu guter letzt hatte er die nächste Straßenbahn zurück verpasst und musste daher eine Stunde an der Haltestelle warten.
Doch nun trottete er sichtlich abekämpft in die Küche, wo er sich alles durchlas, was in der Packungsbeilage dieser Medizin stand. Erst danach füllte er die angegebene Menge zusammen mit ihrem Futter in Yodas Napf, von seiner Katze war allerdings noch nichts zu sehen.
"Yoda?" Einmal ließ Nevio die Packung mit dem Futter rascheln, welches Yoda so gerne fraß. Keine Reaktion. Besorgt runzelte der Junge seine Stirn und lief in sein Zimmer zurück. Yoda hatte sich auf sein Kopfkissen gekuschelt und war offensichtlich wieder eingeschlafen, zumindest öffnete sie ihr Augem nicht, um zu sehen, wer da gekommen war. Vorsichtig streichelte Nevio über das weiche Fell ihres Kopfes, versuchte allerdings sie schlafen zu lassen. Er wollte Yoda nicht aufwecken, doch trotzdem wollte er ihr das Gefühl geben, dass er bei ihr war und das er sie lieb hatte.

Gerade als er sich auf seine Bettkante gesetzt hatte, ertönte ein ziemlich eindeutiges Geräusch aus dem Nebenzimmer, Daphnes Zimmer. Nevio schluckte, als die Töne eines quietschenden Bettes und das ausgelassene Stöhnen zweier Personen durch die Wände hindurch bis in sein Zimmer drangen. Es gab Dinge, bei denen wollte er seiner Schwester einfach nicht zuhören, so verzog Nevio sein Gesicht und eilte zum Schreibtisch herüber. In völliger Hektik riss er die Tür auf, suchte seine Kopfhörer. Darian schien auf jeden Fall verdammt gut zu sein, wenn man hörte, was seine Schwester für Geräusche machte. Ein eiskalter Schauer lief Nevio Rücken herunter, als er sich hinkniete und die unzähligen Blätter und Heftchen in seinem Schreibtisch durchwühlte. Unbedingt musste er diese Kopfhörer finden. Ob sie wohl verhüteten? Ob Darian noch Kondome in seiner Größe dabei hatte? Wenn nicht, dann hätte er ihn nur fragen müssen und - Nevio hielt inne, als ihm eine kleine Mappe entgegen fiel. Seit Jahren hatte er diese nicht mehr geöffnet, warum hätte er auch gesollt?

Nur zu gut konnte Nevio sich noch an das Sommercamp von vor sechs Jahren erinnern, in das seine Mum ihn geschickt hatte, in der Hoffnung er würde Freunde finden - daraus war natürlich nichts geworden und Nevio war die meiste Zeit über alleine gewesen, so wie immer. Nachdenklich betrachtete er die Mappe in seinen Händen, schlug sie dann aber hemmungslos auf. Er hatte längst vergessen, daas er diese Mappe überhaupt besaß, so hatte er auch die ziemlich eindeutigen Geräusche aus dem Nebenzimmer ausgeblendet. Hauptsache war, dass sie Yoda nicht aufwecken würden, denn sie brauchte ihren Schlaf dringend.

Gebannt starrte Nevio auf das Foto und suchte darauf sofort nach Darian. Viel zu lange hatte er ihn nicht mehr - Moment mal, Darian? Sein Blick blieb an der Stelle auf dem Bild hängen, wo der damals Vierzehnjährige stand. Breites Lächeln trotz Zahnspange, die strahlend grünen Augen mit den brauen Sprenkeln, die vollen Lippen, den Haarschnitt, den vor sechs Jahren gefühlt jeder hatte und diese..nunja..unfassbar schönen Hände. Schwer schluckte Nevio. Nein. Das konnte nicht sein. Der Darian, den er vor sechs Jahren im Sommercamp heimlich oder vielleicht auch nicht ganz so heimlich angehimmelt hatte, durfte nicht der Darian sein, der es gerade lautstark, und hoffentlich mit Kondom, mit seiner Schwester trieb. Ein kalter Schauer lief Nevios Rücken hinab. War er komplett verrückt geworden? Nun wo er Darian wieder so vor sich sah, war er seinem heutigen Ich einfach wie es aus dem Gesicht geschnitten. Er war noch immer verdammt schön.

Nervös kaute der Junge auf seiner Unterlippe, zog dann aber hektisch die Kopfhörer aus dem Schrank. Endlich konnte er sie mit seinem Handy verbinden und ließ die viel zu laute Musik in seinen Ohren dröhnen. Darian. Der Darian. Der Darian, der ihm einmal eine geröstete Pistazie geschenkt hatte. Der ihn überraschend freundlich behandelt hatte. Der Skateboard fahren konnte. Der gesagt hatte, dass er niedlich war. Der für das Lagerfeuer immer das Feuerholz gesucht hatte, aber keine Marshmellows mochte. Der immer um 9.00 Uhr morgens duschen gegangen war und für den er vielleicht ein bisschen zu viel übrig hatte.
Fast schon verzweifelt suchte Nevio auf dem Bild nach irgendwelchen Unterschieden, doch er konnte keinen ausmachen. Warum nicht? Sie konnten doch nicht einfach die selbe Person sein. War das nicht irgendwie unmöglich?

Hastig schlug er die Mappe um und schaute sich die nächste Seite an, wo nur ein kleiner Zettel eingeheftet war: "Einziger Mitbewohner, der nicht schnarcht - Mike", der Nächste mit den Worten: "Bist ganz nett - Evelyn" und dann: "Schüchtern, aber cool - Fiona". Am letzten Tag im Camp hatten sie für jeden einen Zettel mit etwas Nettem oder einem Kompliment schreiben müssen, doch wo war der von Darian? Nevio erinnerte sich, dass er diesen, sobald er wieder zu Hause war, über sein Bett gehängt und ihn jeden Abend durchgelesen hatte, aber inzwischen hing er da natürlich nicht mehr.
Plötzlich sprang er auf? Wo war der verdammte Zettel abgeblieben? Nevio fühlte sich plötzlich noch merkwürdiger. Der Darian, für den er vielleicht ein klitzekleines Bisschen geschwärmt hatte, als er 10 war, war hier Wie gruselig.

Nevio zuckte heftig zusammen, als er plötzlich etwas an seinem Fuß spürte, doch im nächsten Moment wusste er, dass es Yoda war, die ihr weiches Fell an ihn schmiegte. Testweise stellte Nevio seine Musik leiser, ob sie wohl fertig waren und er konnte glücklicherweise nichts mehr hören, sodass er die Kopfhörer erleichtert absetzte. "Lass uns frühstücken, Yoda.." Mit einem stolzen Lächeln hob er seine Katze hoch und machte sich mit ihr auf den Weg in die Küche, wobei er auf dem Flur das Rauschen der Dusche hören konnte. Darum kümmerte sich Nevio aber nicht, sondern setzte Yoda bei ihrem Napf ab. Wie jedes Mal nahm er neben ihr auf dem Boden Platz und beobachtete, wie sie fraß. Tatsächlich machte Yoda sich wie jeden Morgen über ihr Futter her, die Medikamente fraß sie einfach mit, was Nevio natürlich glücklich machte. Es wäre schrecklich gewesen, wenn sie sich weigern würde.

Erst nach kurzer Zeit bemerkte Nevio die offene Balkontür und konnte Darian durch die Fensterscheibe erkennen, wie er mit dem Rücken zu ihm draußen stand. Darian. Ohne zu zögern sprang der Junge auf und ging ebenfalls auf den Balkon, wo er den Älteren kurz betrachtete. So wie es aussah, trug er nichts außer seiner Jogginghose, wie Nevio staunend feststellen musste. Er bemerkte, wie ihm automatisch heiß wurde, vor allem da er jetzt wusste, wer Darian war. Wortlos stellte er sich vor seinen alten Bekannten und nahm ihm einfach so die Zigarette aus der Hand, die er rauchte. Diese drückte Nevio im herumstehenden Aschenbecher aus und sah dann wieder zu Darian hoch, darauf wartend, dass er ihn erkannte. Doch nichts. Außer der eindeutigen Verwirrung war absolut gar nichts in Darians Gesicht geschrieben, während Nevio ihn so intensiv anstarrte. Damals hatte er noch nicht geraucht.

"Jährlich sterben sieben Millionen Menschen auf der Welt vom Rauchen..",sprach Nevio schließlich leise in die entstandene, unangenehme Stille hinein. "Ich dachte, du willst vielleicht keiner von ihnen sein und ich dachte...uhm...wusstest du, dass es 5050 ergibt, wenn man alle Zahlen von Eins bis Hundert addiert?" Mit rasendem Herzen knabberte Nevio auf seiner Unterlippe herum.

Lasting Crush [bxb] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt