1. Kapitel - Eine stürmische Begrüßung

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Keuchend riss ich die Augen auf, Husten schüttelte meinen Körper und Wasser lief mir aus der Kehle. Die nasse Kleidung klebte wie eine zweite Haut an mir, feuchte Haarsträhnen in meinem Gesicht. Ich zitterte am ganzen Körper.
Alles um mich herum war verschwommen, ein unklarer Schleier, der die Welt trübte. Die grellen, weißen Lichter über mir brannten wie kleine Sonnen in meine Augen und raubten mir die Fähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Hand hob sich instinktiv und schirmte die Augen ab. Ein zischendes Geräusch verließ meinen Mund.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an das grelle Licht, aber der Versuch aufzustehen scheiterte kläglich. Mein Körper gehorchte mir nicht; ich schlug hart auf dem metallenen Boden auf. Der kalte, raue Untergrund schien jede Bewegung unmöglich zu machen.
Ich blieb sitzen, die Hände verkrampft um das Gitter, und atmete die abgestandene, stickige Luft ein.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich atmete schwer und Panik breitete sich in mir aus. Mein Brustkorb hob und senkte sich nach jedem rasselnden Atemzug, welcher mir über die staubtrockenen Lippen kam. Ich leckte mir über sie, schloss ungläubig die Augen.

Wo bin ich verdammt noch 'mal?
Wer bin ich?

Ich wusste es nicht.
Alles schien sich in einem dichten Nebel zu befinden. Meine Erinnerungen waren ausradiert. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Zwar wusste ich viel, viel über die Welt und wie sie funktionierte, aber nichts über mein Leben. Ich versuchte, nach meinen Erinnerungen zu greifen, jedoch war mir das nicht gestattet. Ich wusste nicht, wie ich an diesen Ort gelangt war, was ich vor wenigen Minuten noch getan hatte. Mein Gedächtnis war leer und das machte mir Angst.
"Ruhig bleiben...", murmelte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Krächzen. Panik würde mir nichts bringen.
Ich zwang meine Augen auf, kämpfte gegen das dumpfe Pochen hinter meinen Schläfen an, und stellte fest, dass ich in einer Art Box war, die mit hoher Geschwindigkeit ratternd nach oben raste. Tausende Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher, doch sie waren nicht hilfreich. Ich musste daran denken, was passieren würde, würde ich mein Ziel erreichen. Würde mich der Tod erwarten?
Eine Frage, die ich nicht beantworten konnte.
Meine Finger fanden den Weg zu den pochenden Schläfen, als würde eine Berührung den Lärm im Kopf beruhigen. "Komm schon, reiß dich zusammen."
Ich stemmte mich hoch, stützte mich an der Wand, während mein Kreislauf dumme Spielchen mit mir spielte.

Kisten?

Die Kisten stapelten sich überall, warfen lange Schatten unter dem grellen Licht der Lampen. Ich zögerte keinen Moment, schob mich hinter eine der Kisten und lauschte meinem Atem. Ein schneller Blick über den Boden ließ meine Augen an einem länglichen, metallenem Ding haften.
Schraubzange? Hieß es so?
Egal. Es war aus Metall, schwer in der Hand, und damit gut genug, um als Waffe zu dienen.
Denn etwas wusste ich mit Sicherheit, und zwar, dass ich mich zu verteidigen hatte, egal was kommen sollte. Klar, ich wusste nicht, wer ich war, wo ich mich befand, trotzdem schien mein Inneres zu wissen, was zu tun wäre. Ich dürfte nicht in den Tod laufen. Niemand sollte jung sein Leben lassen.

Jung?
Wie alt bin eigentlich?

Die Box ruckelte unermüdlich weiter, ein metallisches Quietschen füllte die Luft, begleitet von einem schrillen Alarm, den ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Benommenheit? Adrenalin? Beides schien die Realität zu verzerren. Zusammengedrängt in einer Ecke, fühlte ich die Zeit an mir vorbeiziehen.
Es dauerte nicht lange, bis die Box ruckelnd anhielt. Alle Geräusche erloschen.
Jede einzelne Sekunde glich fortan einer Ewigkeit voller Warten. Eine kurze Zeit geschah nichts, bis ich leises Gemurmel von draußen hören konnte. Ich schloss meine Augen, fokussierte mich auf meine Atmung und meinen Puls. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ich hörte es in meinen Ohren hämmern. Ich zählte die Schläge, um mich zu beruhigen, und bei fünfundzwanzig angekommen, öffneten sich Gittertore an der Decke. Starr blickte ich in die Mitte der Box, die von der Sonne erleuchtet wurde, und konnte den Staub in der Luft umherwirbeln sehen.
Schweißperlen hatten sich auf meiner Stirn gebildet und drohten, hinunterzufallen. Mit pochendem Herzen wartete ich auf Unheil.
Ein Poltern ließ die Wände erzittern, als jemand in die Mitte der Box sprang. Der Aufprall ließ meinen Körper beben. Ein Junge, breit gebaut, muskulös, mit kurzem, blondem Haar. Seine Augen glitten suchend durch die Box, und mein Griff um die Zange verstärkte sich. Das Metall fühlte sich warm an, die Feuchtigkeit meiner Handflächen drohte den Griff zu lockern. Trotzdem hielt ich fest, die Fingerknochen weiß hervortretend.
"Gally, was siehst du?" Die Stimme von draußen war hart, fordernd. Ich spannte jeden Muskel an, mein Herz schlug jetzt so laut, dass ich dachte, er müsste es hören.
Gallys Blick zuckte nach oben. "Nichts. Die Box ist leer…"
Aufgeregte Stimmen schwirrten draußen durcheinander, bevor die andere Stimme wieder sprach: "Wollen diese Strünke uns verarschen? Ich geb' Alby Bescheid, ihr packt mit an und helft, die Vorräte auszuräumen. An die anderen; macht euch wieder an die Arbeit!"
Das Gemurmel verstummte, Schritte entfernten sich. Doch Gallys Augen blieben suchend, misstrauisch. Er stampfte wütend mit seinem rechten Fuß auf. Mein Unheil.
Ein Rumpeln, Kisten wankten. Meine Versteckmöglichkeit erschütterte. Gallys Blick traf meinen, Augen weiteten sich, Verwunderung machte sich breit. Er öffnete den Mund, wollte sprechen - ich war schneller.
Mit zitternden Händen schwang ich die Zange, der Aufprall war dumpf. Gallys Fluch zerriss die Stille, er taumelte zurück und stieß gegen Kisten.

Das ist meine Chance!

Blitzschnell zog ich mich auf eine der Kisten und kletterte aus der Box. Die Sonne blendete mich, als ich mich aufrichtete, mein Blick streifte eine Lichtung. Um mich herum standen Jungen, starrten mich an, überrascht und unschlüssig. Ein rascher Rundumblick verriet mir, dass sich eine größere Gruppe bereits von der Box entfernte.
Ich rannte los, ohne genau zu wissen, wohin.
Hinter mir brachen wilde Rufe aus. Ein Blick über die Schulter bestätigte meine Befürchtung: Die Jungs kamen hinterher!
Ich spornte mich mehr an, meine Füße flogen förmlich übers Gras hinweg. Das Adrenalin floss durch meinen Körper und mein Herz drohte, aus meiner Brust zu springen. Schnell, keuchend blickte ich mich um und staunte nicht schlecht. Um mich herum waren riesige Mauern aus Stein, die sich im Kreis um diese Lichtung erstreckten. Sie bildeten ein sauberes Quadrat und auf jeder Seite befand sich ein großes Tor, genau in der Mitte, und eines davon war offen.
Sofort fixierte ich genau dieses Tor an und rannte darauf zu.

Nur weg von hier!

Kurz bevor ich die Öffnung erreichte, spähte ich ins Innere. Was ich sah, schockierte mich. Es war wie ein Tor in eine andere Welt und es strahlte Furcht und Schrecken aus. Das graue Gestein wirkte irgendwie bedrohlich, es wollte mich nicht haben.
Wie aus dem Nichts blieb ich stehen. Ich starrte fasziniert auf die gigantischen Mauern und auf den Eingang. Ich hatte ganz vergessen, dass mir die Gruppe von Jungs hinterhergelaufen war.
Im nächsten Moment wurde ich daran erinnert.
"Shit, shit, shit!" Die Stimme kam von hinten, aber der Gedanke kam zu spät. Ein Körper krachte in meinen Rücken, wirbelte mich herum und riss mich zu Boden. Luft entwich mir, mein Gesicht wurde ins Gras gedrückt, die Lungen brannten.
Der Druck auf meinem Rücken ließ nach, als der Junge von mir herunterstieg. Ich setzte mich keuchend auf, blickte in braune, offene Augen und runzelte die Stirn.
"Ähm, tut mir echt leid, aber du bist einfach stehengeblieben. Ich mein’, gut, dass du es gemacht hast. Wir dachten schon, du rennst durchs Tor...", sagte er, verlegen den Kopf kratzend, und trat einen Schritt zurück. Noch immer verwirrt nickte ich mechanisch, ohne Worte zu finden.
Mehr Jungen kamen heran, umringten uns, doch ich saß reglos im Gras und starrte den blondhaarigen Jungen an, der mich umgerannt hatte. Anders als der erste Junge aus der Box, hatte dieser eine warme, beinahe freundliche Ausstrahlung.
Er war ein wenig trainiert, dennoch mehr schlaksiger Natur, und als sein Blick wieder auf mich fiel, lächelte er mich aufmunternd an, wobei das Lächeln seine Augen erreichte.
Zusammen bildeten die Jungs einen komischen Haufen. Schlichte Kleidung und Hände, die vom Arbeiten gezeichnet waren.
"Na, Newt, kannst du schon jetzt nicht mehr genug von ihr bekommen? War ja eine stürmische Begrüßung!", lachte ein anderer Junge.
Dieser Newt warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Sehr witzig, Zart. Solltest du nicht arbeiten?"
Zart zuckte nur mit den Schultern, das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht.

Was geht hier ab?

Fragte ich mich, anschließend fielen alle Blicke wieder auf mich und ich sah mich nach einem Fluchtweg um. Gerade als ich aufspringen und zwischen zwei kleineren Jungs hindurchlaufen wollte, sprach Newt zu mir, diesmal mahnend: "Versuch' es erst gar nicht, verstanden?"
Sofort schnellte mein Blick zu ihm. Ich biss mir verzweifelt auf die Unterlippe, doch nickte eingeschnappt.
Newt verscheuchte die Jungs folgend und schickte sie wieder zur Arbeit, was auch immer das an diesem Ort bedeuten sollte. Als sich alle entfernt hatten, fiel sein Blick auf mich. Er streckte mir seine Hand entgegen, die fordernd darauf wartete, dass ich meine in seine legte.
"Vielleicht solltest du langsam 'mal aufstehen? Ich bin übrigens Newt, aber ich denke, dass du das bereits mitbekommen hast."
Ich beäugte seine Hand skeptisch, aber nahm sie trotzdem an. Mit einem Ruck wurde ich hochgezogen und sah wieder die Mauern vor mir. Ich drehte mich zu meinem Gegenüber, legte meinen Kopf leicht in meinen Nacken und sprach das erste Mal: "Wo bin ich und warum kann ich mich an nichts erinnern?"
Newt sah mich mitfühlend an und antwortete mir ruhig: "Du befindest dich auf der Lichtung und das mit deinen Erinnerungen ist ganz normal. Wir alle können uns an nichts mehr erinnern, nur an unseren Namen. Keine Sorge, wenn du deinen noch nicht weißt, du wirst dich bald daran erinnern. Auch, wenn es das Einzige sein wird. Wir alle sind einmal wie du mit dieser Box hier angekommen. Das Wichtigste ist, dass wir dir nichts tun werden; wir sind auf derselben Seite."
Ich musterte Newt irritiert, aber er hatte recht. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern.

Wo bin ich hier nur gelandet?

Zwei Monate und ein gefühlter Augenblick | Newt Ff / Teil 1 ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt