Mit viel Mühe wandte ich den Blick wieder ab, obwohl ich sie gern noch etwas länger betrachtet hätte. Ich spürte, dass mein Herz wild in meiner Brust hämmerte und ich hatte keine plausible Erklärung dafür. Ich hatte keine Ahnung, was gerade mit meinem Körper passierte. Es war ein Zustand, der mir fremd war. Neben mir stöhnte Sophia leise auf. Sie war sichtlich überfordert mit den Aufgaben und runzelte genervt die Stirn. Plötzlich wurde die Stille unterbrochen und Frau Vogels Stimme drang zu mir durch: »Wenn ihr schon fertig seid, könnt ihr euch vielleicht leise untereinander austauschen.« Ich beobachtete, wie Sophia Frau Vogel fixierte und wie sich ihre Miene aufhellte, als der Blick unserer Lehrerin auf uns ruhen blieb. Das machte mich ganz nervös. Sophias Gesichtsausdruck wurde entspannter, aber als sie zu mir sah, konnte ich Fragezeichen in ihren Augen erkennen.
»Was ist?«, wollte ich unsicher wissen. »Du bist ja schon fertig«, stellte sie leicht entrüstet fest und sah auf mein Blatt. Ich nickte. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut in Mathe bist«, neckte sie mich und ich grinste sie an. Ich spürte, dass Frau Vogel noch immer in unsere Richtung schaute und drehte den Kopf erneut so, sodass ich sie besser sehen konnte. Unsere Blicke trafen sich und für einen Moment vergaß ich alles um mich herum. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf und unter meiner Haut aus. Dann riss ich den Blick widerwillig von ihr los und antwortete Sophia: »Das Thema hatte ich schon. Wir waren im Stoff etwas weiter und du weißt doch, dass ich mit Mathe zum Glück nie große Probleme hatte.« Sie lehnte sich ein Stück zurück, dann flüsterte sie mir zu: »Dann kannst du mir ja vielleicht helfen. Ich verstehe das einfach nicht. Mathe ist mir zu logisch, glaube ich. Gerade hier möchte ich doch eigentlich glänzen, aber egal, wie viel Mühe ich mir gebe, es will einfach nie in meinen Kopf.« Stöhnend beugte sie sich wieder über das Arbeitsblatt.
Mein Blick wanderte zurück nach vorn, in der Hoffnung, dass Frau Vogel noch immer zu mir sehen würde, aber sie arbeitete nun konzentriert an etwas, das ich nicht sehen konnte, und beachtete mich nicht mehr. Mein Herz beruhigte sich nur langsam und ich konnte nicht verstehen, was mein Körper mir damit sagen wollte. Dann schenkte ich Sophia meine Aufmerksamkeit. Sie klemmte sich gerade eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr und warf immer mal wieder einen Blick zu Frau Vogel, was mir nicht entging. Sie war total verknallt in unsere Lehrerin und ich fragte mich, ob diese mal mitbekommen hatte, wie meine beste Freundin sie teilweise anstarrte. Doch darüber wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen und erklärte ihr deshalb die Aufgaben. Sie hatte recht. Sophia konnte sie schwer verstehen beziehungsweise war es so, dass sie die Aufgaben gut lösen konnte, wenn der erste Schritt erst einmal gemacht war. Der Anfang fiel ihr schwer und ich bot ihr an, mit ihr zusammen zu lernen. Sie nahm meine Hilfe dankbar an.
»Dann tragen wir doch jetzt mal die Ergebnisse zusammen«, verkündete Frau Vogel und ließ den Blick durch die Klasse schweifen. Verstohlen warf ich ihr erneut einen Blick zu und konnte mir vorstellen, was Sophia an ihr fand. Obwohl ich Frau Vogel nicht kannte, hatte ich ein gutes Gefühl bei ihr. Sie war ein Mensch, den man einfach gernhaben musste. So empfand ich es jedenfalls. »Wer möchte denn die erste Aufgabe vortragen?«, fragte sie mit einem breiten Grinsen und niemand meldete sich. Sie hatte damit gerechnet, deshalb rief sie jemanden auf. »Carlo, fang du doch mal an.« Carlo, ein großer schlaksiger Typ aus den hinteren Reihen und mit leicht fettigen Haaren, stöhnte auf. Man sah ihm deutlich an, dass er noch gar nicht richtig in der Schule angekommen war. Aber das war auch kein Wunder. An einem Montag. Nach den Ferien. Im ersten Block. Er trug seinen Lösungsweg vor, bis er schließlich nicht mehr weiterwusste. »Kann jemand helfen?«, erkundigte Frau Vogel sich, aber die ganze Klasse blieb still. Meine Hand schoss in die Luft. Es geschah ganz automatisch und Sophia sah mich verblüfft an. Auch Frau Vogels Blick war leicht irritiert. Niemand hatte mit einer Meldung von mir gerechnet. Ebenso wenig wie ich.
Geschockt betrachtete ich meine Hand, die nun in der Luft war. »Lisa, bitte«, forderte sie mich auf und ich schluckte. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Was würde der Rest des Kurses denken? Sicherlich dachten sie, ich wäre eine Streberin, aber so war es ganz und gar nicht. Nach einer kurzen Pause und einem »Ähm« meinerseits präsentierte ich die letzten Schritte und erklärte Carlo, wie er auf das richtige Ergebnis kam. Sein Gesicht hellte sich auf. »Jetzt verstehe ich das auch endlich mal, das ist ja doch total einfach«, sagte er munter und bedankte sich. »Möchtest du dann vielleicht auch gleich die zweite Aufgabe vorstellen?«, fragte Frau Vogel und sah mich herausfordernd an. Jedenfalls kam es mir so vor. Vielleicht war es einfach ihre Art und ich interpretierte zu viel hinein. Ich zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen.« Dann legte ich los und wir nahmen die ganzen Aufgaben so lange auseinander, bis sie am Ende alle verstanden hatten. Der Kurs nahm mein Erklären sehr positiv auf und dafür war ich dankbar.
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Mitten ins Herz || txs
RomanceAls Lisas Schule schließt, muss sie auf die Schule ihrer besten Freundin Sophia wechseln, um dort ihr Abitur zu machen. Diese erzählt seit Wochen nur noch von ihrer Mathe- und Physiklehrerin Frau Vogel, in die sie sich anscheinend mächtig verknallt...