Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als sich unsere Lippen voneinander lösten. Ich hasste die Gewissheit, sie gleich wieder gehen lassen zu müssen. Und morgen war auch noch Donnerstag. Wir würden uns nicht sehen. Jedenfalls nicht im Unterricht. Vorsichtig klemmte sie eine Haarsträhne hinter mein Ohr und ließ ihre Hand dort ruhen. Ich musste schlucken. Mir war ganz schwindelig von ihren Berührungen, aber ich nahm den Schwindel dafür gern in Kauf. Ich würde alles für sie in Kauf nehmen, wenn sie dann bei mir bleiben würde. »Lisa...«, flüsterte sie und sah mich eindringlich an. »Du musst jetzt gehen.« Entschieden schüttelte ich den Kopf. Vielleicht auch etwas trotzig. »Und was ist, wenn ich es nicht mache?« Ein leichtes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. »Dann werde ich dich aus dem Raum tragen müssen.« Nun musste auch ich grinsen. »Das will ich sehen«, witzelte ich und sah ihr dabei tief in die Augen.
Dann seufzte sie. »Du musst jetzt wirklich in die Pause gehen. Der nächste Block beginnt gleich.« Es zerriss mich innerlich. Wie sehr konnte man einen Menschen eigentlich wollen? Ich konnte nichts sagen, sondern nickte nur stumm. Ein dicker Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. »Ich will auch nicht gehen«, hauchte sie mir plötzlich zu und kam wieder ein Stück näher. Dann lagen ihre Lippen auch schon wieder auf meinen Lippen. Vanessa zog kurze Zeit später den Kopf etwas zurück und murmelte: »Aber ich muss. Und ich kann dich nicht ständig hier in der Schule küssen. Das ist unverantwortlich. Von uns beiden.« Dann schnappte sie sich ihre Sachen und ging zur Tür. »Kommst du?« Langsam setzte ich mich in Bewegung. Als sie die Tür aufhielt, verabschiedete sie sich mit den Worten: »Wir sehen uns.«
Einige Meter entfernt stand Sophia und wartete auf mich. Vanessa zuckte kurz zusammen, als sie sie entdeckte, aber ließ sich nichts weiter anmerken, sondern ging einfach an ihr vorbei. »Worüber wollte sie sprechen?«, fragte sie neugierig, als ich sie erreichte, doch mir war nicht nach Konversation. Ich wollte nur meine Ruhe haben. »Über den Unterricht. Weil wir gequatscht haben.« Sie zog die Augenbrauen nach oben. Sophia glaubte mir nicht. Das spürte ich. »Deshalb will sie mit dir reden? Das glaube ich dir jetzt aber nicht.« Sie war stehen geblieben und auch ich hielt inne. In mir breitete sich wieder diese Wut auf sie aus. Warum konnte sie mich damit nicht einfach mal in Ruhe lassen? Warum musste sie sich ständig einmischen? »Glaub doch, was du willst«, fauchte ich sie an und lief mit eiligen Schritten davon. Im gleichen Atemzug tat es mir schon wieder leid. In ihrer Situation hätte ich auch wissen wollen, worüber wir gesprochen hatten. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Die Wahrheit würde alles zerstören.
Ich machte mich direkt auf zum nächsten Block. Der Unterricht würde in wenigen Minuten beginnen. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und wusste nicht, wohin ich mit meinen Gefühlen sollte, die überkochten. Als Sophia den Raum betrat, mied ich es, sie anzuschauen. Sie setzte sich und atmete hörbar laut ein und aus. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich kleinlaut bei ihr. »Ich weiß nicht, was los war.« Sie presste die Lippen aufeinander und erwiderte dann: »Schon vergessen. Wir üben beide noch, was?« Ja, das taten wir. Gott, ich war so durcheinander. In Bezug auf Sophia und in Bezug auf Vanessa. Hatte ich wirklich das Glück verdient, dass diese Frau mich mochte? Ich fragte mich, was sie in mir sah. Ich konnte es nicht verstehen, aber hoffte, dass sie es auch weiterhin sehen würde.
Als der Unterricht vorbei war, lief ich eilig auf die Toilette. Lange konnte ich es nicht mehr aushalten, sonst würde meine Blase platzen. Ich wusch mir nach dem befreienden Gefühl die Hände und verließ die Toilette. Frau Nibilus stand einige Meter entfernt und kämpfte mit Büchern auf ihrem Arm. Zweimal laufen kam für sie wohl nicht in Frage. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich sie und nahm ernsthaft in Kauf, meinen Bus zu verpassen. »Oh, Lisa. Das wäre großartig.« Ich nahm ihr die Hälfte der Bücher ab und sie zwinkerte mich an. »Ich muss sie nur zurück in den Vorbereitungsraum bringen.« Bei ihren Worten wurde mir ganz komisch. In den Vorbereitungsraum? In dem Vanessa und ich uns das erste Mal geküsst hatten? Aber meine Sorgen waren unbegründet. Wir befanden uns auf einer anderen Etage und die Schule wirkte wie leergefegt. Wenn jetzt Vanessa statt Frau Nibilus hier wäre... Meine Fantasie ging schon wieder mit mir durch. Meine Englischlehrerin schloss den Raum auf und sagte: »Du kannst sie einfach dort ablegen. Vielen Dank. Du warst meine Rettung.« Sie strahlte mich an und ich nickte nur. »Dann genieß den Nachmittag.«
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Mitten ins Herz || txs
RomanceAls Lisas Schule schließt, muss sie auf die Schule ihrer besten Freundin Sophia wechseln, um dort ihr Abitur zu machen. Diese erzählt seit Wochen nur noch von ihrer Mathe- und Physiklehrerin Frau Vogel, in die sie sich anscheinend mächtig verknallt...