Kapitel 45

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Sophia musterte mich und wartete auf meine Reaktion. Vanessa war krank? War es meinetwegen? Wollte sie mich nicht sehen? War sie wirklich krank? Hatte Eric sie vielleicht doch wieder geschlagen? Hatte es etwas mit dem Geheimnis ihrer Oma zu tun? Was sollte ich tun? Auch wenn ich die falsche Entscheidung traf, musste ich jetzt so handeln. »Ich muss los«, sagte ich leise und nahm Sophias entgeisterten Blick nur von der Seite wahr. Ich drehte mich um und lief davon. Ich hörte noch, wie meine beste Freundin meinen Namen rief, aber ich ignorierte sie. Auf dem Weg nach draußen wählte ich Vanessas Nummer. Es klingelte, doch sie nahm das Gespräch nicht an. Ich legte wieder auf, rief noch einmal an. Wieder nichts. Ich öffnete unseren Chat und schrieb: »Wo bist du? Ist alles ok?« Sie war gerade online gewesen. Hatte sie ihr Handy aus dem Fenster geschmissen oder warum nahm sie nicht ab? Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Vielleicht wollte sie auch ganz einfach nicht mit mir sprechen. Ich stand nun vor der Schule und sie kam online. Mein Puls beschleunigte sich. Es stand: »Schreibt...« Ich wartete ab, doch plötzlich hörte sie auf zu schreiben und war wieder offline. Was sollte das? »Bitte antworte mir. Hat Eric dir etwas getan? Dann sollten wir zur Polizei gehen. Bitte melde dich, ich mache mir fürchterliche Sorgen.«

Wieder wartete ich, doch sie kam nicht mehr online. »Vanessa. Bitte.« Plötzlich nur ein Haken. Hatte sie ihr Internet nun ausgestellt? Spontan entschied ich mich dazu, zu Vanessa zu fahren. Ich hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn ich vor ihrer Tür stand, aber sie ließ mir keine andere Wahl. Also setzte ich mich einige Minuten später in den Bus, der fast direkt vor ihrer Haustür hielt. Als ich ausstieg, wurde mir übel. Mit jedem Meter, den ich zurücklegte, wurde ich langsamer. Ich hielt inne. Mein Herz klopfte wild. War es wirklich eine gute Idee? Überschritt ich damit vielleicht nicht sogar eine Grenze? Ich war verzweifelt. Und verzweifelte Menschen taten anscheinend manchmal Dinge, die man nicht rational erklären konnte. Ich beschleunigte meine Schritte und stand dann vor ihrer Wohnung. Es fühlte sich merkwürdig an. Ich dachte, ich würde mal aus einem anderen Grund hier stehen. Aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Ich musste nicht lange suchen. Sofort sprang mir ihr Nachname ins Gesicht, als würde er von Leuchtreklamen beleuchtet werden. Er hob sich in meinen Augen sofort hervor. Ich legte den Finger auf die Klingel, atmete kurz durch, dann drückte ich. »Ja, hallo?«, fragte ein Mann durch die Gegensprechanlage und ich erkannte sofort Erics Stimme. »Hallo?«, wiederholte er sich.

Eric war zu Hause? Scheiße, was sollte ich machen? Ich war so überfordert, dass ich sagte: »Hallo, ich würde gern zu Frau Vogel.« Für einen Moment kam keine Antwort, doch dann wollte er wissen: »Wer ist denn da?« Ich dachte fieberhaft nach, aber entschied mich dann einfach für: »Eine Schülerin von ihr.« Ich wartete ein paar Sekunden, dann sprang die Tür auf und ich schlüpfte in den Hausflur. Ich rannte die Treppen fast nach oben und war dementsprechend etwas außer Atem. Eric öffnete die Tür und blickte mich erst neutral an, doch als er mich erkannte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Du?«, fragte er und grinste mich an. »Was willst du?« Mein Mund war ganz trocken geworden und ich krächzte: »Ich möchte mit Frau Vogel sprechen.« Meine Stimme klang dünn und ich kam mir furchtbar klein neben ihm vor. »Sie aber nicht mit dir. Und ich will dich warnen. Lass meine Frau endlich in Ruhe oder bist du eine irre Stalkerin?« Was war ich? Eine Stalkerin? Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt, dass ich sie liebte. Dass sie alles für mich war. Und auch sie Gefühle für mich hatte, aber ich sagte nichts von all dem, sondern entgegnete: »Ich glaube, sie kann für sich allein entscheiden, oder?« Sein Grinsen wurde breiter. »Und ich glaube, du gehst jetzt besser. Sonst rufe ich die Polizei, Kleine.«

Kleine? Ich spürte, wie der Zorn sich in mir entfachte, doch ich musste mich zurückhalten. Ich zischte: »Vielleicht sollten wir das wirklich tun. Dann könnten wir auch einmal über Irmgards Tod sprechen.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er funkelte mich böse an. »Verschwinde.« Seine Miene hatte sich verhärtet. »Sofort.« Dann knallte er die Tür vor meiner Nase zu. Wütend klingelte ich noch einige Male, aber niemand öffnete. Ich stapfte die Treppen nach unten und verließ das Haus. Dann überquerte ich die Straße und ging auf die Bushaltestelle zu. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet, also drehte ich mich suchend um und mein Blick wanderte zu den Fenstern ihrer Wohnung. Ich nahm eine Regung hinter den Vorhängen wahr. Eine Person hatte aus dem Fenster geschaut. Oder hatte ich es mir nur eingebildet? Ich wusste es nicht. Ich fummelte mein iPhone hervor und tippte erneut eine Nachricht an Vanessa ein: »Warum verhältst du dich nur so? Bitte sag mir einfach, was los ist. Ich flehe dich an.« Ich kam mir so lächerlich vor, denn anscheinend wollte sie nicht mit mir sprechen, doch ich konnte es nicht akzeptieren. Sie sollte mir sagen, was Sache war. Wenn sie meine Gefühle nicht erwiderte, würde es meine Welt zum Einstürzen bringen, aber ich hatte dann wenigstens Gewissheit. Ich hatte keine Nerven mehr für dieses Versteckspiel.

Mitten ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt