Kapitel 12

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Frau Vogel verließ ebenfalls den Raum und nach einer kurzen Pause draußen setzten Sophia und ich uns, um etwas zu essen. Immer wieder musste ich an ihre Worte denken, die für sie nur ganz normale Worte waren, doch mir bedeuteten sie viel mehr. Der Block war an mir vorbeigezogen. Warum verging die Zeit in ihrem Unterricht nur immer so schnell? Ich wollte eine Taste drücken, die den Moment anhalten konnte, aber ich wusste, dass das nicht möglich war. »Ich glaube, ich packe das nicht länger, Lisa«, vertraute mir meine beste Freundin plötzlich flüsternd an und meine Alarmglocken schrillten. »Was meinst du?«, wollte ich mit piepsiger Stimme wissen und mich beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Sie schaute sich in der Klasse um, falls jemand zuhörte, aber niemand achtete auf uns. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. »Ich bin so sehr in sie verliebt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen und mit dieser Gefühlswendung hatte ich jetzt nicht gerechnet. Etwas hilflos saß ich neben ihr und starrte sie an. »Soll ich es ihr sagen?« Mir blieb die Luft weg. »Was? Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich und bemerkte, dass meine Antwort viel zu schnell kam.

Das konnte sie noch nicht ernst meinen, oder? Sie wollte Frau Vogel von ihren Gefühlen erzählen? Was erhoffte sie sich davon? War sie wirklich so scharf auf eine Abfuhr? Mir passte das gar nicht, aber das konnte ich ihr so nicht sagen. War ich vielleicht auch einfach nur eifersüchtig? Hatte ich Angst, dass Frau Vogel doch etwas für Sophia empfinden könnte? Nein, das war unmöglich. Oder? Wie ein scheues Reh sah sie mich an. Dann klingelte es. Pausenende. Ich wollte und konnte jetzt nicht weiter mit ihr darüber sprechen. In meinem Inneren protestierte alles, doch trotzdem bot ich ihr an: »Komme doch heute Abend bei mir vorbei und wir reden noch einmal in Ruhe über die Sache, ok? Hier ist nicht der richtige Ort dafür.« Sie nickte dankbar und ich hätte mir eine Ohrfeige verpassen können. Ich wollte das nicht hören, obwohl es doch als beste Freundin meine Aufgabe war, aber wie sollte ich das ertragen? War ich zu egoistisch? Ja, irgendwie schon. Aber ich war doch selbst komplett verwirrt und hatte keine Ahnung, was diese Frau mit mir anstellte.

Ein erneutes Klingeln signalisierte uns, dass der Unterricht begonnen hatte, aber von Frau Vogel war nichts zu sehen. Irritiert blickte Sophia mich an. Sie sah total fertig aus, aber das würde ich ihr jetzt ganz sicher nicht sagen. Ich wollte nicht, dass sich etwas zwischen unsere Freundschaft stellte, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass genau das gerade passierte. Und der Grund dafür stürmte in diesem Moment in den Raum und murmelte entschuldigend ein paar Worte, die niemand verstand. Sie legte ihre Tasche ab, fuhr sich einmal mit den Händen durch die Haare und warf einen Blick in die Runde. Als sich unsere Blicke trafen, verharrte sie einen Moment und in mir breitete sich wieder dieses ungewohnte Kribbeln aus. Wahrscheinlich hatte ich es mir wieder nur eingebildet. Wie so oft in letzter Zeit. Ich konnte in ihrer Nähe einfach nicht mehr rational denken. Das war völlig unmöglich.

»Wir werden heute weiter im Stoff gehen und noch ein paar Übungen dazu machen«, erklärte sie und meine Augen huschten sofort wieder in ihre Richtung und verfolgten sie, als sie zur Tafel ging, sich die Kreide nahm und etwas anschrieb. Ihre Handschrift war leicht geschwungen, aber sehr gut lesbar. Sie passte irgendwie zu ihr. Alles, was sie tat und sagte, passte zu ihr. Dachte man das nicht immer? Genau das machte sie ja irgendwie aus und so besonders. Ich beobachtete sie weiterhin. Sie stand mit dem Rücken zu uns und gestaltete ihr Tafelbild. Vanessa. Vanessa Vogel. Der Name klang wie Musik in meinen Ohren. Immer wieder wiederholte ich ihn. Stellte mir vor, wie ihr Mann sie nannte. Hatte sie einen Spitznamen? Oder einen Kosenamen? Für mich war sie Frau Vogel. Ganz schlicht und einfach: »Frau Vogel.« Sophia sah mich total irritiert an und auch der Rest der Klasse hatte nun die Augen auf mich gerichtet. Ich kam mir total dämlich vor, als ich realisierte, was da gerade aus meinem Mund gekommen war. »Ja, bitte?«, wollte sie wissen und drehte sich um, damit sie mich sehen konnte. Ich spürte, wie mein Puls sich beschleunigte.

Mitten ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt