Kapitel 11

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Meine Situation war verzwickt. Ich saß im Unterricht und musste aufpassen, dass ich Frau Vogel nicht anstarrte. Das Gespräch hatte mir gutgetan und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als wieder mit ihr alleine zu sein und einfach nur zu reden über Gott und die Welt. Ich wollte alles über sie erfahren. Jede Kleinigkeit. Ich wusste, dass sie das mit dem Anrufen als Witz gemeint hatte, doch trotzdem waren meine Hände ganz verschwitzt, als ich mir vorstellte, wie ich sie nachts anrief und sie mich abholte, ich wieder in ihr Auto steigen durfte und... Ein Ellbogen in meiner Rippe und viele Augenpaare auf mein Gesicht gerichtet rissen mich aus meinen Träumereien. »Was?«, fragte ich ertappt und Frau Vogel musste ein Grinsen unterdrücken. »Ich habe dich nach der Lösung gefragt, Lisa.« Ihre Stimme war bestimmt, doch trotzdem irgendwie sanft. Warum musste sie denn jetzt ausgerechnet mich fragen?

Verdattert sah ich auf mein Blatt und stellte mit Entsetzen fest, dass ich die Aufgabe gar nicht gelöst hatte, die an der Tafel stand. »Ich... Ich weiß nicht«, stotterte ich und merkte, wie mein Kopf knallrot wurde. Sie runzelte kurz die Stirn, aber dann sah sie wieder ganz normal aus und fragte Caro nach der Lösung. Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust und argwöhnisch betrachtete Sophia mich. Sie hatte noch immer nichts gesagt und ich fühlte mich von Minute zu Minute schlechter. Es war doch eigentlich eine ganz alltägliche Situation gewesen, doch trotzdem wollte ich im Erdboden versinken. Ich wusste nur dieses eine Mal eine Antwort nicht, aber Frau Vogel hatte die Frage gestellt und das ärgerte mich. Ich wollte ihr gefallen. Sie vielleicht auch ein Stück weit beeindrucken. Stattdessen verhielt ich mich mal wieder wie eine Idiotin, die keine Matheaufgaben lösen konnte.

Hatte sie mich absichtlich gefragt? Sie hatte doch ganz bestimmt mitbekommen, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders war. Oder war es wirklich nur Zufall? Das Pausenklingeln riss mich erneut aus meinen Gedanken und Sophia stand mit gepressten Lippen auf. Ich berührte sie vorsichtig am Arm und sie drehte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick war wütend. Vielleicht auch zornig. Nein, stellte ich mit Entsetzen fest. Sie war eifersüchtig. Mit einem Schlag wurde es mir bewusst. Eifersüchtig darauf, dass ich ein Gespräch unter vier Augen mit der Frau hatte, in die sie verliebt war. Für die ich ebenfalls etwas empfand, was ich nur noch nicht ganz verstand oder einordnen konnte. Ich musste sie beruhigen. Gott, ich musste mich wirklich zusammenreißen. Wohin sollte das nur führen?

»Können wir reden?«, fragte ich versöhnlich und atmete erleichtert aus, als sie sich wieder auf ihren Platz fallen ließ. Sie saß auf ihrem Stuhl wie ein bockiges Kind und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Typische Abwehrhaltung. Ich wartete darauf, dass alle den Raum verließen. Auch Frau Vogel packte ihre Sachen zusammen, warf uns noch einen flüchtigen Blick zu und stürmte dann ebenfalls aus dem Raum. Ich wollte nicht, dass sie ging. Aber ich war machtlos. Ich konnte diese Entscheidung natürlich nicht beeinflussen. »Ok, ich habe dich angelogen«, gestand ich und sie zog ihre Augenbrauen nach oben. »Warum?« Ihre Frage klang schnippisch. Ich überlegte, bevor ich ihr antwortete. »Weil es mir peinlich ist.« Ihre Augen waren nun wachsamer und interessiert blickte sie mich an. Ich beschloss, ihr die halbe Wahrheit zu erzählen.

»Auf dem Weg nach Hause am Samstag haben wir uns zufällig getroffen. Ich war ziemlich betrunken und hatte unterwegs eine kleine Verschnaufpause eingelegt«, fing ich an und sprach dann nach einer kurzen Unterbrechung weiter: »Sie hat gefragt, ob es mir gut geht und mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Ich habe ihr Angebot angenommen und bin eingestiegen, aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Ich wollte es dir sagen, aber irgendwie wollte ich vermeiden, dass es dir deshalb schlecht geht.« Ihr Blick wurde wieder etwas weicher. Sie erwiderte: »Sag mir bitte einfach immer die Wahrheit. Ich weiß, dass du mich nur schützen willst, aber ich möchte alles wissen, was mit Frau Vogel zu tun hat, ok?« Schnell nickte ich, dabei wusste ich, dass ich ihrer Bitte niemals ganz nachkommen konnte. »Und deshalb war ich noch einmal bei ihr, um mich zu bedanken. Es war mir total unangenehm, aber nun ist alles geklärt. Ihren Pullover hat sie auch wieder zurück.« Sophia legte ihre Hand auf mein Knie und sagte: »Du hast auch immer ein Glück. Unfassbar.« Wenn du wüsstest, dachte ich.

Mitten ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt