Kapitel 36

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Wir mussten nicht mehr allzu lange warten, obwohl ich es mir gewünscht hätte. Natürlich wollte ich den Abschied hinauszögern, denn ich wollte sie nicht gehen lassen. Erst recht nicht nach dem, was gerade zwischen uns geschehen war. Ich war noch immer beflügelt. Es war unglaublich, was sie mit mir anstellen konnte. Wie sehr ich mich auf Vanessa einlassen und mich ihr ganz hingeben konnte. Ich vertraute ihr voll und ganz. Als wir Schritte auf der Treppe hörten, klammerte ich mich regelrecht an sie und wünschte mir, dass meine Eltern einmal richtig lange wach blieben, doch der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Sie küsste immer wieder meinen Kopf und in meiner Magengegend breitete sich ein wohliges Gefühl aus. Verzweifelt versuchte ich, den Moment einzufangen. Er sollte niemals enden. Doch das klappte nicht. Das klappte nie. Man konnte die Zeit nicht anhalten. Nicht einmal für eine Sekunde. Sie verstrich und nahm keine Rücksicht auf die Menschen, die es sich so sehr wünschten.

Wir warteten noch eine halbe Stunde, bis wir uns sicher waren, dass meine Eltern schlafen mussten. Ich schlich zur Tür, öffnete sie und lauschte. Alles ruhig. Dann schloss ich sie wieder und ging auf Vanessa zu, die mittlerweile ebenfalls aufgestanden war. »Kann ich nicht vielleicht mitkommen? Ich könnte doch auch in der Wohnung deines Bruders übernachten«, schlug ich vor, aber sie schüttelte mit einem traurigen Blick den Kopf. »Ich würde sofort zustimmen, Lisa. Aber es ist keine gute Idee. Wir würden nur die ganze Nacht Dinge anstellen, die uns nicht schlafen lassen würden. Ich muss ganz früh raus und du musst zur Schule.« Ich verstand ihren Einwand, doch trotzdem war ich etwas enttäuscht, aber sie musste schließlich auch Auto fahren. Da wollte ich natürlich kein Risiko eingehen. Vor allem nicht bei diesem Wetter.

Ich zog sie deshalb zu mir und küsste sie. »Ich komme am Donnerstag wieder. Zwar erst spät abends, aber vielleicht kann ich noch einmal kurz vorbeikommen«, flüsterte sie mir zu und schnell nickte ich. »Ja, unbedingt.« Dann blieben wir mitten im Raum stehen und sahen uns für eine längere Zeit in die Augen. Es war ein so intensiver Moment, dass ich den Atem angehalten hatte. Ein zärtlicher Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. »Atmen, Lisa. Atmen.« Dann strich sie mir mit ihrer rechten Hand einige lose Haarsträhnen hinter das Ohr. »Wir lesen und hören uns«, hauchte sie mir zu, beugte sich zu mir und gab mir noch einen Kuss. Ich war völlig benommen und konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber dann riss ich mich zusammen.

Ich wollte sie noch nach unten zur Tür bringen und sie nicht in der Dunkelheit allein durch das Haus laufen lassen. Leise öffnete ich die Tür erneut und blickte noch einmal in den Flur. Absolute Stille. Ich machte eine Kopfbewegung und deutete ihr damit an, mir zu folgen. Es war wie in einem Teenagerfilm – einer, der eigentlich nicht da sein sollte, schlich sich aus dem Haus, damit die Eltern nichts mitbekamen. Nur war Vanessa nicht einer, sondern meine Lehrerin. Mein Körper kribbelte vor lauter Aufregung und Anspannung. Ich hatte etwas Angst, dass meine Eltern jeden Moment aus dem Schlafzimmer sprangen und riefen: »Ha, haben wir es doch gewusst, dass sie da ist!« Aber nichts geschah, als wir die Treppe nach unten liefen. Alles blieb ruhig.

Vorsichtig öffnete sie die Haustür. »Ich melde mich«, sagte sie leise und hauchte mir noch einen letzten Kuss auf die Lippen. »Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte ich flüsternd und ein wunderschönes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Dann schlich sie davon. Ich blickte ihr nach und sah, wie die Dunkelheit sie verschluckte. Dann schloss ich seufzend die Tür. Ich wollte gerade den Weg nach oben nehmen, da lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich eine Stimme hörte, die aus dem Wohnzimmer kam. »Lisa, komm doch mal her.« Erstarrt blieb ich im dunklen Flur stehen, dann ging ein kleines Licht im Wohnzimmer an. Meine Mama saß dort im Sessel und hatte ein Buch auf dem Schoß liegen.

Mit schweren Schritten ging ich auf sie zu. Mir wurde heiß und kalt. Gleichzeitig. Wie viel hatte sie mitbekommen? Wusste sie, dass es Vanessa gewesen war? Ihr Gesichtsausdruck war neutral, sie sah nur etwas müde aus. Schweigend blieb ich vor ihr stehen. Mein Herz raste und meine Hände waren verschwitzt. »Willst du mir etwas erzählen?«, fragte sie und ihr Blick durchbohrte mich förmlich. Wortlos zuckte ich mit den Schultern. Dann sagte ich schließlich doch: »Ich denke nicht.« Sie betrachtete mich einige Sekunden, dann erwiderte sie: »Ich habe gehört, wie ihr die Treppe nach unten gekommen seid.« Meine Mama hatte also ihr Licht gelöscht, um uns zu belauschen. Oder um versteckt zu bleiben.

Mitten ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt