Kapitel 6

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Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war ich nicht bereit für diesen Tag. Ich scrollte durch meine Benachrichtigungen. Das war meine tägliche Routine nach dem Aufwachen. Seit über 600 Tagen nutzte ich die App Timehop. Diese zeigte mir an, was ich genau vor einem Jahr, vor zwei Jahren, vor drei Jahren usw. für Fotos geschossen oder was für Beiträge ich bei Instagram hochgeladen hatte. Ich fand diesen Rückblick immer total spannend, denn oft dachte ich nicht an die Dinge und so frischte ich die Erinnerungen gern auf. Facebook teilte mir einen Veranstaltungshinweis mit und bei Instagram schaute ich auch kurz mal vorbei. Danach erhob ich mich seufzend und streckte mich. Ich fühlte mich verkatert, dabei hatte ich gestern keinen Schluck Alkohol getrunken. Und das wusste ich. Ich kannte den Grund, warum ich deprimiert war und das ärgerte mich nur noch mehr. Heute war Donnerstag. Ein langer Tag. Ohne Unterricht bei Frau Vogel.

War das nicht lächerlich? Wie abhängig man die Laune von anderen Menschen machte? Woran konnte man Glück messen? Ich wollte mich nicht so fühlen. Warum konnte ich nicht wie jeder andere Mensch einfach aufstehen und in die Schule fahren? Ich musste wieder klarkommen. Deshalb nahm ich mir fest vor, nicht an Frau Vogel zu denken. Das hatte sowieso keinen Sinn. Vielleicht war es auch gar nicht so verkehrt, wenn ich sie heute nicht sah. Dann konnte ich innerlich wieder etwas zur Ruhe kommen. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass wenn man nur 60 Sekunden lang lächelte, auch wenn es gekünstelt war, sich die Laune erheblich verbesserte. Ich wusste nicht, ob das stimmte. Es war ein Bericht im Internet gewesen. Der Grund dafür war, dass beim Lachen oder beim Lächeln der Gesichtsmuskel zwischen Wange und Auge genau auf den Nerv drückte, der unserem Gehirn eine fröhliche Stimmung signalisierte. Überprüft hatte ich diese These nie, aber heute war der perfekte Tag dafür.

Vielleicht war es noch besser, wenn ich mich selbst dabei betrachtete? Ich ging ins Bad und war froh darüber, dass die Heizung lief. Vor dem Spiegel blieb ich stehen und sah mein Spiegelbild an. Und dann lächelte ich mir zu. Ich fühlte mich total blöd dabei, aber nach einer Weile änderte sich meine Stimmung tatsächlich und ein Grinsen breitete sich in meinem Gesicht aus. Ein ehrliches Grinsen. Nachdem die 60 Sekunden vorbei waren, warf ich noch einen letzten Blick in den Spiegel und streckte mir selbst die Zunge aus. Ich würde mir den Tag nicht vermiesen lassen. Nicht von einer Sache, die mir eigentlich nichts bedeutete. Ich wollte mich nicht so darauf versteifen und war von meinem Vorhaben fest überzeugt. Heute würde ein guter Tag werden.

Nach dem Duschen ging ich nach unten in die Küche. Wie jeden Morgen. Ich frühstückte mit meinen Eltern und plötzlich hörten wir ein lautes Scheppern. Wie angewurzelt blieb ich sitzen und fragte ängstlich: »Was war das?« Mein Papa sprang auf und sah in den Garten. »Dieser blöde Wind«, schimpfte er und öffnete die Terrassentür. Kurze Zeit später kam er zurück und erklärte: »Von unserem Apfelbaum ist ein Ast abgebrochen. Ein ziemlich dicker sogar. Es ist sehr windig, passt unterwegs bitte gut auf euch auf.« Ich hasste Wind. Jedenfalls diese Art. Im Sommer war etwas Wind ganz angenehm, aber zu dieser Jahreszeit war er absolut unangenehm und ich wollte am liebsten zurück in das warme Bett. Ich verabscheute es, wie er gegen das Gesicht peitschte, unbarmherzig und kalt.

Auf dem Weg zum Bus sah der Himmel sehr grau aus. Es würde heute sicherlich noch aus Eimern schütten. Und ich blöde Nuss hatte den Regenschirm vergessen. Lächeln, befahl ich mir. Aber das war in der aktuellen Situation eine schwierige Aufgabe, wie ich feststellte. Der Wind knallte mir mit voller Wucht ins Gesicht und meine Haare waren jetzt schon völlig zerzaust. Warum genau hatte ich mir keinen Zopf gemacht? Ich ärgerte mich über mich selbst und konnte einfach nicht lächeln. Kurz vor der Haltestelle kamen die ersten Tropfen vom Himmel. Und genau heute hatte der Bus Verspätung. Ich wollte laut schreien. Das durfte doch echt nicht wahr sein. Hier gab es keinen Unterschlupf. Obwohl ich dick angezogen war, zitterte ich. Es war kalt und ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Der Regen wurde etwas stärker und in weiter Ferne donnerte es. Gewitter hatte mir jetzt noch gefehlt. Der Himmel zog sich immer mehr zu. Dann endlich kam der Bus und ich stieg mit den anderen Leuten ein. Ich konnte einen Sitzplatz ergattern und als ich mich setzte, kam ein richtiger Schauer vom Himmel.

Mitten ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt